von Kurt Merkel
Wenige Tage vor der Wahl des amerikanischen Präsidenten saß ich in der Davies Symphony Hall in einem ausverkauften Konzert des da beheimateten San Francisco Symphony unter dem Dirigat seines Music Directors Michael Tilson Thomas. Es gab das herrliche 2. Klavierkonzert von Rachmaninoff (ich bleibe bei »herrlich«, obwohl der Rezensent des San Francisco Chronicle anderntags es »shmaltz« nannte) und die überwältigende 9. Sinfonie von Schostakowitsch, die ich mir schleunigst in einer Einspielung des New York Philharmonic unter Leonard Bernstein aus dem Jahre 1965 kaufte.
Es war übrigens ein Nachmittagskonzert, und da konnte es nicht überraschen, daß ich einer der jüngsten Zuhörer war. Nach dem Konzert sah ich eine Armada von betagten Rollstuhlfahrern das Haus verlassen. Andere erklommen die auf sie wartenden Busse, die sie zurück in die Städte und Städtchen des Gebiets um die San Francisco Bay brachten. Es waren aber nicht nur die jungen Leute, die bei dem Konzert fehlten. Auch die das Straßenbild in einigen Gegenden dominierenden Schwarzen, Latinos, Chinesen und Filipinos waren da nicht zu finden: ich war bei einer Veranstaltung alter weißer Amerikaner gewesen, bei denen der Anteil von Einwanderern der ersten Generation, wie sich in Gesprächen in der Pause und nach dem Konzert zeigte, unverhältnismäßig hoch war.
Natürlich sprach man auch da erstrangig über Politik. Aber nicht über die die Schlagzeilen in diesen Tagen bestimmenden Affären. Da hatte etwa die Frau des Bürgermeisters, das ist der, der die Homo-Ehen kurzzeitig zugelassen hatte, für einen Skandal gesorgt, als sie auf die Frage, ob ihr Mann schwul sei, antwortete: nicht, solange sich keiner findet, der besser als sie sei – und dazu führte sie mit Gesten das Essen einer Banane vor. Gleich darauf fand sich der Bürgermeister schon wieder auf der ersten Seite der Gazetten, da er sich dem Protestmarsch der von den Hotelunternehmern ausgeschlossenen Angestellten für ein paar Minuten anschloß, weil er das Verhalten der Unternehmer als tourismusfeindlich verstand.
Die Gespräche beteiligten sich auch nicht an den Spekulationen darüber, ob die Wahlregulierungen die Wählermeinung adäquat zum Ausdruck kommen ließen, oder ob sich das Desaster der letzten Wahl wiederholen könnte. Auch die jüngsten Enthüllungen über das Ausmaß der allgemeinen Überwachung aller Bürger, die unrechtmäßig zustande gekommenen Halliburton-Verträge oder heutige Folgen von großflächigen Tests der Armee im Jahre 1950 mit Grippe erregenden Mikroben im Gebiet der Bay waren längst abgehakt. Vielmehr kam da eine Stimmung zum Ausdruck, die am ehesten eine von den Lebenserfahrungen der Sprechenden geprägte Resignation genannt werden kann, die mit einem schmerzlichen, altersweisen Lächeln vorgebracht wurde.
Mein Nachbar stellte sich mir als 84jähriger Jude osteuropäischer Herkunft vor. Er sei, sagte er, ein Glückspilz von Geburt. Das mußte er ja wohl sein, wie hätte er sonst die Verfolgung durch seine nichtjüdischen Nachbarn und durch die deutschen Okkupanten sowie die sowjetischen Säuberungskampagnen überleben können. Nach Amerika sei er gekommen, weil ein besseres, freieres Land nicht vorstellbar gewesen sei. Nun aber, und er lächelte weiter, mache sich dieses Amerika verhaßt in der ganzen Welt. Natürlich brauche das Land den atmosphärischen Wechsel zu einer von den Demokraten geprägten Politik. Und natürlich werde es den nicht bekommen. Denn das Schrecklichste sei, daß der Gegenkandidat zum amtierenden Präsidenten, den man ja unterstützen müsse, kaum anderes versprechen könne, als die alte Politik besser zu führen. Was muß, sagte er, mit diesen meinen Amerikanern geschehen sein, daß man, um ihre Stimmen zu bekommen, ihnen versprechen muß, mit Kriegen die Welt Amerika unterzuordnen, Abtreibungen und Schwulenehen zu verbieten. Gewiß, meinte er, werde man den alten Präsidenten, wenn auch nicht hier in Kalifornien, wiederwählen. Es werde aber sicher nicht so schlimm kommen, daß er hier nicht bleiben könne. Und er beschloß dieses wie alle seine Gespräche mit seinem die Welt erklärenden Lieblingsvers: Schlag’s Fenster ajn / Laß Luft herajn! / Spaß muß sajn, / sagt Levenstajn.
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