Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 8. November 2004, Heft 23

Rhetorische Nebelkerzen

von Heinz Dietel

Quo vadis, Rhetorik«, muß man wohl fragen, wenn der Inhalt einer Rede die Zuhörer nur noch zu sieben Prozent beeinflußt, die restlichen 93 Prozent aber Körpersprache und Stimme zuzuordnen sind. Diese Aussage im Kulturteil einer überregionalen Tageszeitung liegt wie viele ähnliche anderswo publizierte voll im Trend einer Zeit, in der das nichtsprachliche Zeichen, die nonverbale Kommunikation, wichtiger geworden ist als das gesprochene Wort mit seinem begrifflichen Inhalt.
Am besten: »Vergessen Sie alles, was Sie über Rhetorik gewußt haben!« – so titelte ein renommiertes Magazin. Nur: Neu ist diese Überspitzung auch nicht. Auf zu viele Bereiche angewendet, ist sie dabei, durch zu häufigen Gebrauch an Originalität und damit an Wirksamkeit zu verlieren – aber auch das wäre ja zu »vergessen«.
Daß sich seit der Antike ein rhetorisches Grundlagenwissen herausgebildet hat, ist unumstritten. Zu erörtern wäre, was davon heute unter neuen Kommunikationsbedingungen relevant, vermittelnswert ist, aber auch, auf welche aktuellen Tendenzen die Rhetorik Einfluß nehmen sollte, und ob sie das überhaupt noch kann.
So scheint zum Beispiel – nicht nur auf allen politischen Ebenen – die von bloßem Durchsetzungswillen bestimmte Debatte selbst dort zu überwiegen, wo eigentlich Diskussion, also gemeinsames Nachdenken – zum Beispiel im Sinne des oft zitierten Gemeinwohls – notwendig wäre. Die Argumentation zur Person ersetzt die zur Sache immer öfter; zu oft erfüllt sie eine Killerfunktion, führt zu allseitig betretenem Schweigen, wo offener Widerspruch nötig wäre. Ungerechtfertigte Pauschalisierungen, Manipulierungen mit der Durchschnittszahl oder in der Form von Fragen versteckte üble Behauptungen werden zur Regel. Eingefordert wird dabei natürlich die »Kultur des Streits«. Zu einer solchen gehören aber vorrangig die genannten Kriterien, nicht nur solche Grundregeln wie »zum Thema sprechen, sich kurz fassen, den anderen ausreden lassen«. Doch selbst diese müssen instabil bleiben, solange Vorbilder besonders in Politik und Familie sie nicht festigen, was aber primär freilich nicht eine Frage der Rhetorik wäre.
Wenn für eine Verhandlung weniger die Argumente als die Sitzordnung wichtig werden, für ein Bewerbungsgespräch das passende Kostüm, wenn sich ein normales Verkaufsgespräch immer auffälliger einem Rollenspiel nähert, wenn zum Kriterium des Redners wird, ob er locker auftritt, der Schlips zum Anzug paßt, er die Hände vom Pult nimmt und gewinnend lächeln kann – dann darf sich niemand wundern, wenn auf dem weiten Feld der interdisziplinären Rhetorik immer stärker Imageberater, Schauspieler und Vermarktungsspezialisten ihre Erfahrungen einbringen und dieses Feld dominieren.
Das alles sind allerdings Nebelkerzen, die ablenken sollen von der Tatsache, daß objektiv noch immer der Inhalt einer Rede, ihr nach logischen, psychologischen und taktischen Gesichtspunkten geordneter Aufbau, ihr Erkenntnis- und Nutzwert für den Hörer das Primäre ihrer Wirksamkeit ist. Im »vergessenswerten« Vokabular der Rhetorik wird das »innerer« Redestil genannt; zu unterscheiden vom »äußeren«, dem hör- und sichtbaren Teil des Auftretens also. Man spricht von Inhalt und Form, und meint das Was und Wie einer Rede. Gemeint ist Wirksamkeit und nicht Wirkung schlechthin. Den Stellenwert des »Wie« hat die Rhetorik dabei nie unterschätzt. Faktoren wie die Rednerpersönlichkeit, Sprechstil und Körpersprache sind gewiß mitentscheidend, manchmal sogar in hohem Maße, aber eben doch sekundär, denn auf Dauer kann sich niemand der Kraft der Argumente entziehen.
Nicht zufällig wohl diskutieren Kommunikationsexperten über eine »Renaissance der Inhalte«. Denn schließlich: Wer fundierte Inhalte folgerichtig und prägnant darstellt, wer richtig atmet und unverkrampft spricht, kann mit Sprechweise, Mimik, Gestik und Haltung zumindest keine groben Fehler machen. Wer also etwas zu sagen hat, der sollte reden.