von Klaus Hart, Rio de Janeiro
Alles begann mit dem Grito 1995, als sich die Nationale Bischofskonferenz (CNBB) mit ihrer Brüderlichkeitskampagne erstmals den sozial entwurzelten, marginalisierten Bevölkerungsteilen widmete und mit Hilfe der Pastoralen alljährlich einen landesweiten Grito dos Excluidos (Aufschrei der Ausgeschlossenen) organisierte. Bald schlossen sich Bewegungen wie die der Landlosen und auch einige Gewerkschaften an. Ab 1999 sprang der Funke auf ganz Lateinamerika und die Karibik über. Luiz Bassegio, gleichzeitig Sekretär der brasilianischen Migrantenseelsorge, war von Anfang an dabei, er verfaßte zahllose Grito-Zeitungen und Argumentationen, reiste regelmäßig in alle beteiligten Länder und erklärte, wie man einen Grito organisiert. Selbst in Haiti war er, wo die UN-Einheiten derzeit vom brasilianischen Militär geführt werden. Die Lage dort sei derzeit überaus kompliziert – viele rivalisierende Gruppen, und die Volksbewegungen verbündeten sich nicht.
Bassegio suchte auch Kuba auf und sprach dort auf einer Konferenz gegen Neoliberalismus. »Wir schätzen Kuba, schätzen Fidel Castro, kritisieren aber, daß es dort keine Direktwahlen gibt. Eine Person sollte nicht 45 Jahre an der Macht bleiben. In Kuba sehen wir indessen mehr Positives – Gesundheit, Bildung, Sport, das minimale Wohlstandsgefälle – nicht so exorbitant wie in Brasilien.« Bassegio erwähnt in diesem Zusammenhang den neuesten UNO-Index für menschliche Entwicklung (der übrigens in bezug auf den Inselstaat von Deutschlands Linken gern unberücksichtigt gelassen wird): Nach diesem UN-Index liegt Kuba auf dem 52. Platz – mit Deutschland, den USA und Argentinien in der Spitzengruppe jener Länder mit hohem Entwicklungsgrad. Brasilien folgt erst auf dem 72. Platz, die Türkei auf dem 88. Rang, in der Gruppe der Länder mit mittlerem Entwicklungsgrad.
Die diesjährigen Proteste richten sich speziell gegen die Zahlung der Auslandsschulden und die von den USA favorisierte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA. »Das ist eine Strategie der Vereinigten Staaten, ihre Waren überall auf dem Kontinent zu verkaufen – wie Colin Powell und selbst Bush erklärten. Aber wir akzeptieren das nicht.
Die ALCA wird vor allem die kleine Landwirtschaft, die kleine und mittlere Industrie unserer Länder zerstören. Die USA und Kanada erbringen achtzig Prozent des Bruttosozialprodukts von Nord- und Südamerika, Brasilien dagegen nur etwas über vier Prozent, Argentinien nur 2,2 Prozent – solche asymmetrischen Wirtschaften kann man doch nicht gleichsetzen! Wir wollen Integration, claro, aber das heißt zuerst Investitionen in den armen Ländern. In den USA entfallen auf tausend Beschäftigte der Landwirtschaft etwa 1500 Traktoren, bei uns nur fünfzig, sechzig. Wir müssen zuerst einen Wirtschaftsblock unter uns bilden – dabei aufpassen, daß Brasilien nicht ähnlich den USA die kleinen Nachbarstaaten ausbeutet.«
Die Brasilianische Bischofskonferenz, deren Assessor Bassegio sieben Jahre lang war, unterstützte ein Plebiszit gegen die ALCA, über drei Millionen unterschrieben. Jetzt wollen die sozialen Bewegungen ein offizielles Plebiszit. »Leider hört uns Lula nicht.« Besonders in der Ersten Welt wird der Staatschef und einstige Gewerkschaftsführer als Heilsbringer verehrt. Bassegio war ein persönlicher Freund Lulas. »Zur Diktaturzeit in den achtziger Jahren habe ich Lula während der Metallarbeiterstreiks vor der Polizei in unserem katholischen Seminar versteckt – wir von der Arbeiterpastoral sammelten damals auch Lebensmittel für die Streikenden. Bei der Gründung der Dachgewerkschaft CUT haben wir katholischen Seminaristen die zehntausend Statute gedruckt, ich habe das ganze geleitet.« Heute jedoch zählt Bassegio zu Lulas schärfsten Kritikern und kritisiert die Rückzahlung der Auslandsschulden – ebenfalls ein zentrales Thema des Grito continental. Für den Schuldendienst wurde 2003, in Lulas erstem Amtsjahr, mehr als doppelt soviel aufgewendet wie für Gesundheit, Bildung, Wohnen, Infrastruktur, Technologie und Agrarreform zumindest vorgesehen war, bei weitem aber nicht ausgegeben wurde. »Deshalb ist ja der Markt so beruhigt, aber das Volk so nervös. Die Höhe der Auslandsschulden wird nicht einmal überprüft, wie in der Verfassung vorgesehen – und die Agrarreform läuft schlechter als unter Lulas Amtsvorgänger Cardoso. Die Multis nutzen die billigen Arbeitskräfte aus und investieren, um zu exportieren. Nur durch Druck der Volksbewegungen ändern wir neoliberale Politik.« Der kontinentale Aufschrei der Ausgeschlossenen sei auch für Lulas Ohren gedacht. Nach Lulas Wahl sei auch die brasilianische Grito-Bewegung erst einmal regelrecht abgesackt, es wurde schwieriger, die Leute zu mobilisieren. Doch der nationale Grito am siebten September sei wieder sehr stark gewesen, an ihm hätten sich zwei Millionen Menschen beteiligt.
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