Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 22. November 2004, Heft 24

Bitterfelder Wege

von Günter Agde

Der Bitterfelder Kulturpalast war Schauplatz der beiden Bitterfelder Konferenzen (1959 und 1964) und damit Geburtsort des sogenannten Bitterfelder Weges. Auf dem berühmtesten Foto von der Zweiten Bitterfelder Konferenz sieht man die Schriftstellerin Christa Wolf und den SED-Parteichef Walter Ulbricht nebeneinander herzlich lachen (weil der Diskussionsredner Erwin Strittmatter gerade einen Witz gemacht hatte). Hinter ihnen sitzt ein kleiner, gedrungener Mann, der nicht ganz so lauthals lacht: Es ist Hans Lorbeer, Chemiearbeiter, dann Schriftsteller aus Wittenberg-Piesteritz, Jahrgang 1901, Mitbegründer der deutschen proletarischen Literatur vor 1933 und Antifaschist, erster Leiter des Zirkels Schreibender Arbeiter im Bitterfelder Palast.
In ihm verkörpert sich gewissermaßen ein Grundimpuls dieses Bitterfelder Wegs. Mit »seinem« Zirkel wollte er weniger eine neue, revolutionäre Literatur produzieren, obwohl er aufmerksam jede wirkliche Talentprobe beachtete, weil er aus eigener Erfahrung wußte, daß Talente überall aufblühen konnten – sie brauchten dann »nur« behutsame Förderung, keine Gängelung oder propagandistische Infiltration. Er achtete vor allem auf Wesensmerkmale von Literatur, auf Sinnhaftigkeit, Schönheit und Klarheit von Sprache und Stil beispielsweise. Den deutlichen Affront zum Funktionärskauderwelsch, das auch in Bitterfeld gesprochen und geschrieben wurde, kommentierte Lorbeer nur mit jenem hintersinnig-freundlichen Lächeln, das auch das Foto zeigt. Und wenn er seinen Freund F. C. Weiskopf aus Berlin in den Zirkel holte, dann vor allem aus diesem Grunde. Lorbeer wurde bald müde und gab auf, auch, weil er selbst noch sein Alterswerk, die Luther-Trilogie, abschließen wollte. Lorbeers Nachfolger wußten sich in seiner Tradition. Freilich erwarteten Leute von außen dann bald auch von dem Zirkel, die Trennung von Laien- und »richtiger« Kunst aufzuheben, ohne auf ästhetische Gesetze zu achten.
Der Bitterfelder Weg – man weiß es – brachte viele DDR-Schriftsteller (und Anfänger!) weg von Schreibtischen und Parolen zum »wirklichen« Leben hin: Bei den Arbeitern vor Ort fanden sie die tatsächliche reiche Widersprüchlichkeit dieser Jahre, unverblümt und ohne Schönreden. Und so taten sich denn zahlreiche Klüfte auf zwischen den Verheißungen, Beschwichtigungen (und auch Drohungen) der Ideologen und dem, was die Leute »ganz unten« taten, dachten, wünschten und fühlten. Daraus entstanden Konflikte die Menge, auch Tragödien. Werner Bräunig zerbrach daran, Franz Fühmann plagte sich bis an sein Lebensende damit herum.
Im Grunde weist jede DDR-Schriftstellerbiographie eine Phase existentieller Auseinandersetzung mit diesem Spannungsfeld aus. Den Bitterfelder Weg begleiteten auch Irrtümer, Versager und Sackgassen und viel Borniertheit von seiten kunstferner Funktionäre und Ämter, weshalb dieses in seinem Wesen produktiv-unruhige kulturelle Flußbett viel Spott, Unverständnis und Ignoranz erntete.
Der tatsächliche Wirklichkeitsgewinn für die DDR-Literatur infolge dieses Wegs schlug sich rasch in neuen Werken nieder (auch in Reportagen und Feuilletons) und bildete später ein Motiv für die Prügel des 11. SED-ZK-Plenums 1965: So viel Realitätsgewinn war denn mit dem Bitterfelder Weg von den Oberen nun auch wieder nicht beabsichtigt gewesen … Die literatur-zentrierte Ausstellung im Bitterfelder Rathaus (siehe auch Blättchen 23/2004) belegt diese Entwicklungen mit Büchern, Fotos und Faksimiles von Briefen, darunter von Werner Bräunig, Franz Fühmann, Brigitte Reimann. Fühmanns Entwurf eines Briefes an den Minister für Kultur, in dem er seine Erfahrungen mit dem Bitterfelder Weg zu resümieren versucht, ist von Korrekturen geradezu übersät: Indiz für Fühmanns zähes Ringen, die Schwierigkeiten und Nöte zu bewältigen. (Karlheinz Mundt hat in seinem Fühmann-Dokumentarfilm Das Bergwerk die eindrucksvoll-sinnliche Anschauung dazu geboten.)
Aus Werner Bräunigs Losung Greif zur Feder, Kumpel! (deren Nachsatz oft weggelassen wurde: «die sozialistische Nationalliteratur braucht Dich!«) wurde schnell der Slogan für die »ganze Richtung«. Der griffige Satz mutierte zu »Greif zur Kamera!« und mobilisierte das Amateurfilmschaffen der DDR. Viele DDR-Betriebe unterhielten Amateurfilmstudios und finanzierten deren (teure) Filmarbeit.
Im Bitterfelder Kulturpalast lag das stille Zentrum: Es organisierte republikweite Wettbewerbe, die gegenseitige Information und wechselseitigen Ansporn darstellten. Gerade die Bewegung »Greif zur Kamera!« wuchs über das reine Dilettieren hinaus: Im DDR-Fernsehen lief lange Jahre eine gleichnamige Sendereihe (moderiert von erstklassigen Filmfachleuten: Kameramann Werner Bergmann, Dokumentarist Karl Gass). Hinter dieser massenmedialen Multiplikation mußten die Buchveröffentlichungen der Laienarbeiten schreibender Arbeiter oder die Malereiausstellungen zurückbleiben. Die Sendereihe wurde übrigens aus den gleichen Gründen (wenn auch später) eingestellt, wie die Bitterfelder Schriftsteller auf dem 11. SED-ZK-Plenum abgestraft wurden: zu viel Lebenswirklichkeit, zu wenig Propaganda, die die SED-Führung erwartet hatte.
Bei der Eröffnung der Ausstellung wurden zwei Gedankengänge vorgeschlagen, das Haus und seine erhebliche Bedeutung zusammenzubinden und in einen größeren, kulturhistorischen und politischen Zusammenhang zu stellen. Der 17. Juni 1953, bei dem Bitterfeld und der Kulturpalast-Trägerbetrieb ein Zentrum gewesen waren, lag nur fünf Vierteljahre zurück: Die tatsächlichen Widersprüche des damaligen Lebens hatten sich da mehr als kräftig zu Wort gemeldet. An die über hundertjährige Tradition der deutschen Arbeiterbewegung, neben ihren sozialen Zielen ihre Bildungs- und Aufklärungsbemühungen mit Festspiel- und Feierhäusern zu schmücken, erinnerte Dietrich Mühlberg. Der Palast-Gedenktag und die Ausstellung könnten eine Initialzündung darstellen, dies weiter zu erforschen und zu vertiefen, zum Beispiel die anderen Kulturpaläste und deren Zirkelarbeit einzubeziehen (etwa in Buna oder in Murchin bei Anklam, wo er buchstäblich auf der grünen Wiese und nicht bei einem Großbetrieb errichtet worden war).
Die Ausstellung ist werktags von zehn bis achtzehn Uhr bei freiem Eintritt zu sehen. Eigentlich gehört sie in den Palast selbst, Platz genug ist dort. Den heutigen Besuchern wäre sehr zu wünschen, daß sie die kulturhistorische Dimension dieses prächtig renovierten Hauses kennenlernen könnten (zumal die regionale Geschichtsschreibung im Bitterfelder Stadtmuseum mit dem Jahr 1945 endet und der Link zur Historie auf der Homepage des Palastes – sagen wir mal – korrekturbedürftig ist).