Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 22. November 2004, Heft 24

Ausgerechnet Musharraf

von Jochen Reinert

Ob der Verkäufer in einem Islamabader Shop Verwandte in Kaschmir hat, ist nicht bekannt. Wie auch immer – als Naseem Mughal von den sensationellen Gedankenspielen seines Präsidenten Pervez Musharraf zur Lösung der Kaschmirfrage hörte, war neben vorsichtiger Zustimmung auch viel Mitgefühl mit den Hauptbetroffenen herauszuhören: »Das Volk von Kaschmir«, diktierte er einem BBC-Korrespondenten in den Block, »hat wegen der Dickköpfigkeit sowohl Pakistans als auch Indiens viel erdulden müssen. Ich glaube, daß jede den Kaschmiren angemessene Lösung die richtige ist, weil es ihre Zukunft ist und wir nicht das Recht haben, deren Zukunft zu diktieren.«
Ob Musharrafs Vorschläge vom 26. Oktober das Richtige für die Kaschmiren sind, ist noch nicht heraus. Aber der Generalspräsident brach damit ein von allen Islamabader Spitzenpolitikern seit Staatsgründer Jinnah gehegtes Tabu: In aller Öffentlichkeit gab er de facto Pakistans Anspruch auf ganz Kaschmir auf, ebenso das damit verbundene Beharren auf einem von der UNO 1948 angeregten Referendum der Kaschmiren über ihre Zugehörigkeit zu Pakistan oder Indien. Ein solches Plebiszit, da ist man sich in Südasien einig, würde zweifellos zugunsten Pakistans ausfallen.
Ausgerechnet Pervez Musharraf! Noch 1999 hatte er als Oberbefehlshaber mit dem sogenannten Kargil-Krieg hinter dem Rücken des damaligen Präsidenten Nawaz Sharif eine militärische Lösung der Kaschmirfrage versucht und war grandios gescheitert. Seither weiß er mehr als manch anderer, daß Pakistan Maximalpositionen gegenüber dem verfeindeten großen Bruder Indien nicht durchsetzen kann. Nun also dachte er laut über einen territorialen Interessenausgleich in der rund 220000 Quadratkilometer umfassenden Himalajaregion nach, die gegenwärtig zu einem Drittel von Pakistan und zu fast zwei Dritteln von Indien verwaltet wird.
Nach Musharrafs Vorstellungen könnte die Region schrittweise demilitarisiert und in sieben Zonen eingeteilt werden, von denen einige an Pakistan (wobei er wohl an die Northern Areas dachte, das Gebiet am Nanga Parbat), andere an Indien (etwa das mehrheitlich buddhistische Ladakh und das hinduistische Jammu) angegliedert werden könnten.
Für das umstrittene Kaschmirtal beiderseits der jetzigen Kontrollinie, in dem zwischen Muzaffarabad und Srinagar die übergroße Mehrheit der muslimischen Kaschmiren lebt, könnte er sich eine gemeinsame Administration durch beide Länder oder eine UNO-Mandatsverwaltung vorstellen.
Einen günstigeren Zeitpunkt hätte Musharraf für seinen Vorstoß kaum finden können. Im Januar 2004 hatten er und der damalige indische Premier Vajpayee nach zweieinhalb Jahren eisigen Schweigens am Rande des Gipfels der südasiatischen Regionalorganisation SAARC in Islamabad eine Wiederaufnahme des Dialogs verabredet. Bereits wenige Tage später durften sich an einem Punkt der seit dem ersten Kaschmirkrieg 1947 bestehenden Kontrollinie am Fluß Jhelum über viele Jahre voneinander getrennte Familien an Steinen gebundene Briefe und Päckchen mit kleinen Geschenken über das Wasser zuwerfen. Schon im Februar kamen offizielle Verhandlungen zwischen Islamabad und Delhi in Gang.
Auch die neue indische Regierung unter Manmohan Singh setzt auf Annäherung, weitere vertrauensbildende Maßnahmen wie die erste Reise einer pakistanischen Journalistendelegation ins indische Kaschmir seit über fünfzig Jahren folgten. Und: Experten beider Länder begannen, das Andorra-Modell – die gemeinsame Verantwortung von zwei Staaten für ein weitgehend autonomes Staatswesen an ihren Grenzen – auf seine Tauglichkeit für Kaschmir zu befragen.
Doch die Reaktionen auf den Musharraf-Plan waren – wie kaum anders zu erwarten – sehr gemischt. In Pakistan sprach nicht nur das einflußreiche islamistische Parteienbündnis MMA, sondern auch Benazir Bhutto, die Chefin der oppositionellen Volkspartei von »Verrat an den Kaschmiren«. Nicht anders die pakistanisch-kaschmirischen Extremisten, die weiter mit Waffengewalt – ihre Guerillatrupps verübten immer wieder schwere Anschläge – ganz Kaschmir unter ihre Fittiche bringen möchten.
Auch in Indien waren die Reaktionen recht verhalten. Ein Regierungssprecher meinte kühl, über Kaschmir in den Medien und nicht im Rahmen der diplomatischen Kanäle zu verhandeln, sei »unangebracht«. Allerdings: Premier Singh spricht unterdessen auch schon von »Lösungen außerhalb festgefahrener Denkmuster«. Wohingegen etwa der namhafte Sicherheitsexperte Jashit Singh, Ex-Chef des führenden Delhier Thinktanks Institut für Sicherheitsstudien und -analysen (IDSA), glaubt: »Irgendein Plan über die gemeinsame Kontrolle irgendeiner Region von Kaschmir ist in den nächsten fünfzehn Jahren nicht vorstellbar.«
Musharrafs Adressaten, so die Ansicht von Beobachtern, sitzen indes nicht in erster Linie in Delhi. Wenn er sagt, »es gibt auf beiden Seiten Menschen mit extremen und unflexiblen Einstellungen, die den Prozeß sabotieren könnten«, dann denkt er gewiß zuerst an die islamistischen Hardliner im »Land der Reinen« und weniger an deren hinduistische Widerparts in Indien, die schon einmal einen Marsch nach Srinagar anführten.
Immerhin, in Pakistan wie Indien scheint sich, wenn auch nur allmählich, der Gedanke Bahn zu brechen, daß beide Länder einen Frieden bitter nötig hätten. Beide Länder finanzieren überdimensionierte Armeen, von denen riesige Kontingente in Kaschmir bis hinauf zum Siachen-Gletscher in über sechstausend Meter Höhe stationiert sind. Die Kosten sind enorm – während in beiden Staaten nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung lesen und schreiben kann und die Hälfte aller Armen der Welt in Südasien leben. Allerdings denken große Teile der Eliten beider Länder in anderen – vorwiegend nationalistischen und strategischen – Kategorien. Wobei auch in dieser Hinsicht neue Motive für einen wirklichen Friedensprozeß entstanden sind. Pakistan hat mit der Entmachtung der Taliban in Afghanistan sein erhofftes strategisches Glacis gegenüber Indien verloren, und in Delhi wird immer besorgter registriert, daß die Investoren sicherere Gefilde wie Südostasien oder China vorziehen.
Freilich hat der Islamabader Shopworger Mughal recht: Ein Frieden über die Köpfe der Kaschmiren hinweg hätte wenig Zukunft. Doch nach fünfzehn Jahren Krieg und über zwanzigtausend Opfern ist auch bei ihnen die Verhandlungsbereitschaft sichtlich gewachsen. Während radikale Separatistenführer in ihren Reaktionen auf den Musharraf-Plan auf einem Referendum und dem Anschluß an Pakistan bestehen, könnten für gemäßigte Kräfte immerhin Teile des Planes »in Betracht kommen«. Nun wird es viel am Fingerspitzengefühl Delhis liegen, wie die Dinge gerade auch vor Ort weiterlaufen. Denn ohne einen Frieden im umkämpften indischen Teil des Kaschmirtals wird es auch keine dauerhafte Verständigung zwischen den beiden Atommächten des Subkontinents geben.