Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 25. Oktober 2004, Heft 22

Vergiftete Atmosphäre

von Kathrin Singer, Kiew

In der Ukraine gibt es derzeit nur ein Thema: Werden die Präsidentschaftswahlen am 31. Oktober frei und fair sein? Immer häufiger schwingt in den Debatten ernste Sorge mit. Denn Meinungsumfragen belegen: Die Bürger glauben zwar, daß der Führer des Oppositionsbündnisses Unsere Ukraine, Viktor Juschtschenko, im ersten Wahlgang mehr Stimmen bekommen wird, sehen aber bei den (sehr wahrscheinlichen) Stichwahlen am 21. November dann doch den bisherigen Premier Viktor Janukowitsch als Sieger, und sechzig Prozent der Bevölkerung nehmen an, daß dieses Ergebnis gefälscht sein wird. Genährt wird diese Erwartung durch das Gerücht, die Regierung werde absichtlich grobe Fälschungen inszenieren, um dann die Wahlen für ungültig zu erklären. Dann ginge die Ära von Amtsinhaber Leonid Kutschma nicht wie geplant zu Ende, sondern der Landesvater müßte als Retter in der Not einspringen und die Geschäfte weiterführen. Der allmächtige Chef der Kanzlei des Präsidenten, Viktor Medwetschuk, dem keiner der Kandidaten ins Konzept paßt, soll den geheimen Plan bereits in Moskau diskutiert haben.
Für das Vorhandensein solcher Pläne spricht vieles. Die Delegation des Europarates unter Leitung von Hanne Severinsen und auch die 46 Langzeitbeobachter der OSZE stellen immer wieder grobe Unregelmäßigkeiten bei den Vorbereitungen der Wahlen fest. Die Regierung setzt alle administrativen Ressourcen ein, um ihren Kandidaten Janukowitsch zu unterstützen. Der Chef der Nationalbank hat bereits im Juli Urlaub genommen und leitet Janukowitschs Kampagne, andere Leiter von staatlichen Behörden folgten ihm und üben nachweislich Druck auf ihre Mitarbeiter aus. Den 1,5 Millionen Soldaten und Polizisten wurde befohlen, »wie ein Mann« für Janukowitsch zu stimmen. Die Mitarbeiter der Bahn sind vom Transportministerium angewiesen, in den Zügen Werbebroschüren zu verteilen und Poster vom Premierminister anzubringen. Auch für »Aufklärungsmaterial« über den Kandidaten der Opposition Unsere Ukraine sorgen die Schaffner. Und ganz außer der Reihe und entgegen dem bestätigten Haushaltsplan erhöhte der Ministerpräsident und Präsidentschaftskandidat noch schnell vor den Wahlen die Renten. Statt einer Mindestrente von umgerechnet 22 Euro gibt es jetzt 44 Euro. Im Verteidigungsministerium wurden die Löhne um neunzig Prozent erhöht – zur Stärkung der Loyalität.
Die Medien sind fast komplett in der Hand der Regierung. Die Wahlbeobachter um Botschafter Geert Ahrens analysierten, daß der staatliche Sender UT1 in der Zeit vom 3. bis 24. September 65 Prozent seiner Sendezeit dem Kandidaten der Regierung zur Verfügung gestellt hat. Die Berichterstattung ist zu hundert Prozent positiv, beziehungsweise neutral. Dagegen erhielt Juschtschenko nur zwölf Prozent der Sendezeit, in der er zu 95 Prozent schlecht gemacht oder neutral über ihn berichtet wurde. Die gleiche Politik verfolgen die privaten Sender wie Inter, ICTV oder 1+1, die im Besitz von Anhängern von Leonid Kutschma sind – unter anderem seines Schwiegersohns.
Es werden offen feindselige »Werbe«spots gezeigt, in denen ein in Cowboystiefel und Texashut gekleideter Juschtschenko über die Ukraine reitet und das Land spaltet. Ein Brief des »Rudolfinerhauses« an Juschtschenko, in dem es heißt, daß gegen ihn möglicherweise biologische Waffen angewandt wurden, fiel bei den Privaten gleich ganz unter den Tisch. Statt dessen wurden Parlamentsreden übertragen, in denen der Oppositionsführer als Lügner beschimpft wurde.
Tonnenweise wurde am 6. Oktober diskriminierende Wahlpropaganda in den Lagerhallen des Staatlichen Ausstellungszentrums in Kiew beschlagnahmt. Auf einem Plakat, auf dem die Gesichter von Bush und Juschtschenko zusammenfließen, heißt es: »Ja, Buschenko«. »Bist Du bereit für den Bürgerkrieg?« schreit es von einem anderen Poster im Uncle-Sam-Rekrutierstil. Auch T-Shirts mit der Aufschrift »Yankee go home« wurden konfisziert. Juschtschenko, der für eine prowestliche Orientierung in Richtung EU und NATO steht, wird auf diese Weise permanent als Lakai der USA diskreditiert.
Die OSZE hat bereits nach den Wahlen 2002 Empfehlungen zur Veränderung im Wahlablauf gegeben. Einiges davon ist in das neue Wahlgesetz eingeflossen. Dennoch bleibt vieles ungeklärt. Bis heute gibt es keine zentralen Wählerlisten, und die Gefahr ist groß, daß Wähler mehrmals ihre Stimmen abgeben. Etwa sieben Millionen Ukrainer leben im Ausland. Die Ausübung ihres demokratischen Wahlrechts ist nicht garantiert, da es nur 113 Wahllokale gibt.
Problematisch ist die Zusammensetzung der Territorialen Wahlkommissionen. Jeder der 24 Präsidentschaftskandidaten kann zwei Vertreter in dieses Gremium entsenden. Da viele der Mitwettbewerber eher Scheinkandidaten zur Schwächung der Opposition sind, formieren sich die Wahlbüros ganz im Sinne des Regierungskandidaten. Vertreter des Wahlbündnisses Unsere Ukraine haben sich bereits beschwert, daß es ihnen kaum möglich ist, ihre Kandidaten als Wahlbüroleiter durchzusetzen. Größte Sorgen bereitet die wahrscheinliche Überfüllung der Wahlbüros. Bereits früher hatte die OSZE dieses Problem angesprochen. Eine Situation, die sich – so Botschafter Geert Ahrens – nun noch mehr zuspitzen wird: »Es gibt weniger Wahllokale als zuvor, aber mehr registrierte Wähler und riesige Wahlkommissionen.« Daß jetzt noch das Team von Viktor Janukowitsch verkündet hat, 16000 Wahlbeobachter aus dem pro-russischen Osten des Landes in den pro-oppositionellen Westen und umgekehrt zu bringen, läßt die Befürchtungen, daß es zu Provokationen und Tumulten und letztlich zur Annullierung der Wahlen kommen kann, nur noch größer werden.
Als besonders kritisch wird der Transport der Wahlzettel zu den territorialen Wahlkommissionen betrachtet. Immer wieder wird Stalin zitiert: »Es spielt keine Rolle, wer wählt, sondern wer die Stimmen auszählt.«. Die Opposition wird in jedes Wahllokal zwei Beobachter entsenden und auf eine korrekte Auszählung drängen.
Das Land steht an einem Scheideweg. Millionen Ukrainer glauben, daß sie am wirtschaftlichen Aufschwung nicht partizipieren und ihr Land von Clans beherrscht wird. Gleichzeitig wächst die Zahl der Menschen, die davon überzeugt sind, daß ihre Wahl im Oktober 2004 die Zukunft des Landes beeinflussen kann. Deshalb die große Angst, daß skrupellose Wahlfälschungen ihnen die letzte Hoffnung auf ein besseres Leben nehmen könnte.