von Martin Schirdewan
Die westdeutschen Eliten lassen den Osten endgültig fallen. Nach fünfzehn Jahren verfehlter Einigungspolitik ist der Bundespräsident ehrlich genug zu prognostizieren, daß der Osten auf Dauer schlechter gestellt sein wird als der Westen: »Das geht von Nord nach Süd wie von West nach Ost. Wer sie einebnen will, zementiert den Subventionsstaat und legt der jungen Generation eine untragbare Schuldenlast auf.«
Ein Narr, wer darin nicht erkennen will, daß der Aufbau Ost nicht nur als gescheitert betrachtet, sondern daß auch gewünscht wird, diesen nicht fortzuführen.
Glücklicherweise ist der amtierende Bundespräsident ein promovierter Wirtschaftswissenschaftler, der die sozio-ökonomische Situation zum einen der nördlichen, zum anderen der östlichen Bundesländer mit scharfem analytischen Verstand unmittelbar mit Dienstantritt erfaßt hat, nachdem er als Präsident des Internationalen Währungsfonds (IWF) ganze Volkswirtschaften in finanzielle Geiselhaft genommen hatte. Unvergessen die Unruhen in Argentinien, die Dutzenden Menschen das Leben kosteten, nachdem Millionen Argentinier durch die Politik des IWF in die Armut getrieben worden waren. Natürlich ist es rational, dort nicht mehr zu investieren, wo nichts mehr zu holen ist und auf absehbare Zeit auch nichts zu holen sein wird. Die Aussichten auf den osteuropäischen Schnäppchenmarkt zwingen das deutsche Kapital zudem, sich schleunigst über die Oder hinweg zu orientieren und zu engagieren. So günstig, wie beim Ladenschlußverkauf zwischen Elbe und Oder wird es zwar nicht noch einmal zugehen; aber Profite lassen sich auch in Tschechien, Polen, der Slowakei und so weiter maximieren. Da kann ein Aufbau Ost nur stören.
Glücklicherweise ist der amtierende Bundespräsident ein Mann, der sofort die Interessenlage gesellschaftlicher Kräfte identifiziert und die Finanzkräftigen aus ihrer Verantwortung nimmt. Der Bundespräsident will provozieren, und er provoziert den Beifall angeblich Sachverständiger aus Politik und Ökonomie. Daß er hierbei angesichts der zu erwartenden Konsequenzen der Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme dem Elend und der Not in der bundesrepublikanischen Gesellschaft die Plätze zuweist und diese dauerhaft willkommen heißt, zeugt von seiner tiefen humanistischen Gesinnung und der vollkommen überparteilichen Wahrnehmung seines repräsentativen Amtes.
»Horst Köhler wurde am 22. Februar 1943 in Skierbieszów, Polen, geboren. Er ist deutscher Staatsbürger, verheiratet mit Eva Köhler und hat zwei Kinder«, vermeldet noch immer die Homepage des IWF. Gelegentlich wünsche ich mir, er würde mit Eva und den zwei Kindern nach Skierbieszów ziehen.
Anders unser Bundeskanzler. Der weiß zwar auch, daß der Aufbau Ost an sein Ende gelangt ist und die Brache Brache bleiben wird; aber sein eigentliches Thema ist der Sozialabbau: »In Ost wie West gibt es eine Mentalität bis weit in die Mittelschicht hinein, daß man staatliche Leistungen mitnimmt, wo man sie kriegen kann.« In dieses Boot sprang dann gleich der gelegentlich in Wahlkampfzeiten kreidefressende Brandenburgische Innenminister und CDU-Rechtsaußen Jörg Schönbohm: »Das ist eine Raffgiermentalität, die unserem Volk nicht gut ansteht.«
Mitnahmementalität? Indem die vom System Deklassierten und die sozial Schwachen ihren rechtlichen Anspruch auf eine finanzielle Existenzgrundlage geltend machen?
Raffgiermentalität? In einer kapitalistischen Gesellschaft, in der Profitmaximierung das einzige Prinzip zu sein scheint, werden Arbeitslose und andere Bedürftige von führenden Politikern der sogenannten Volksparteien als gierig denunziert?
Wem Hartz IV nicht schon Beweis genug war für das Ende der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland, der sei spätestens jetzt eines Besseren belehrt. Die Herren des Landes haben ihre Lektion gelernt: Stottert der vergötterte Markt, dann stottert der zum Selbstzweck verkommene Staat. Und spätestens dann, wenn Diäten und Rentenansprüche in Gefahr geraten, tragen zweifellos immer die sowieso schon vom Markt Ausgeschlossenen die Schuld an der Misere.
Gerhard Schröder hat in seiner Jugend Fußball gespielt. Jörg Schönbohm ist ein General a.D. Ach, was wären das für Zeiten.
Vor einigen Jahren nahm ich an einer Demonstration teil, deren Motto der Erhalt alternativer Lebens- und Kulturformen war. Ein Slogan wurde häufig wiederholt und immer, wenn die politische Elite des Landes sich an ihrer Dekadenz berauscht, fällt er mir wieder ein:
Übrigens, wir brauchen keine Regierung!
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