Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 11. Oktober 2004, Heft 21

Theater museal

von Jan Bonin

Die Berliner Bühnen setzen nach der Sommerpause erst einmal alte, bewährte Hüte auf. In der Neustadt, einer Stadt in der Volksbühne, tummeln sich Der Idiot und sein Team, nach Dostojewski von Castorf. Am Berliner Ensemble betreibt Peymann sogar Museumskultur am lebenden Objekt, indem er Bernhardts Ritter, Dene, Voss in einer Inszenierung von 1986 mit eben diesen Darstellern aufwärmt. Dieses Konversationsstück ist pures bürgerliches Lachtheater, mit Niveau, aber auch mit unsäglichen Längen. Zwei schauspielernde Industriellen-Töchter haben den Philosophen-Bruder aus der Irrenanstalt geholt. In dem daraus erwachsenden Fiasko halten sie das Publikum mit den gekonnt gesprochenen Sentenzen wahlweise boulevardesk bei Laune oder gerade so über Wasser. Die drei Schauspieler feiern sich selbst.
Es zeigt sich, daß der BE-Betrieb auf zwei Schienen fährt, die da heißen: gehobenes Amüsement und gefällige Kapitalismuskritik. Letztere übt die auch von Peymann inszenierte heilige Johanna der Schlachthöfe. Armer B. B.! Peinlich wirkt es, wenn der Saal erhellt wird und das Publikum, ausgerechnet das des BE!, als ausgebeutete Schicht herhalten muß, und es an einem Sonntagabend heißt: »Am Montag habt ihr wieder Arbeit.« Die Aktualität des Stückes ist unbestritten. Aber ideologischer Applaus oder ein sanftes Buh für den Chor der Kapitalisten tun ihm nicht gut. Es hat nur noch der Aufruf zu Montagsdemonstrationen gefehlt. Zu beklatschen sind bestenfalls noch das Bühnenbild von Achim Freyer sowie Manfred Karge als Mauler und Meike Droste in der Titelpartie. Sonst nur Chargen und Karikaturen. Fazit: Am BE kommt die abgestandene Theaterästhetik gut an, solange es mit guten Schauspielern versorgt wird.
Die Komische Oper spielt einen sehr beschwingten Don Giovanni, der von Peter Konwitschny stammt. Darin tritt sogar Mozart auf, als Klavierschüler und Sohn. Don Ottavio wird mitten in einer Arie erschossen und rezitiert einen Brief des Komponisten. Starke, sinnvolle Einschnitte prägen den Abend, der sich in der Gegenwart abspielt und an dessen Ende der Panerotiker Giovanni kastriert und wieder in die Gesellschaft aufgenommen wird. Im ersten Akt leicht und komisch, gerät das Treiben spätestens mit einer Orgie aus dem Ruder (noch schärfer soll ja Die Entführung aus dem Serail sein). Es ist der Abend großer Sängerdarsteller. Gabriel Suovanen nimmt man den Giovanni unbedingt ab, nicht nur wegen seiner guten Figur. Der Leporello von Carsten Sabrowski ist noch stimmgewaltiger, und die Damen Elvira, Anna und Zerlina, sind alle auf der Höhe und in bester Form. Aus dem Orchestergraben hätte es, wenn nicht gerade der starke Kontrast wie in der Registerarie gefragt und gelungen war, insgesamt zügiger und straffer tönen dürfen.
Studenten von Berliner Musik- und Kunsthochschulen dürfen an der Komischen Oper experimentieren und haben einen Abend mit sechs Kurzopern gestaltet: »K.O.« Das Studio ist als Turnhalle hergerichtet, und das Publikum wird von schrill pfeifenden Schließerinnen zum Bänketragen angehalten. Denn die Bühnenbilder sind im Raum verteilt. Die Bänke sind übrigens die weltweit unbequemsten und härtesten. Davor sei gewarnt. Wie im Schulsport (der nicht immer die besten Erinnerungen hinterläßt). Aber da darf man sich wenigstens ab und an bewegen. Es entschädigt dafür ein zupackendes Sängerensemble, das viele gute Ideen mit Leben erfüllt. Zwei Opern kreisen um die Beziehung Egons und Emiliens (die Komponisten sind Ernst Toch und Jörg Widmann), andere sind nach Heiner Müllers schwachem, wortverspielten Herzstück komponiert. Große Komik gibt es in Die vier Töne: Vier Sänger singen übers Singen und schneiden dabei Gemüse. Begabte Personenführung lassen die Jungregisseure Nurkan Erpulat und Wojtek Klemm erkennen, ausgefallene Bühnenbilder gibt es einige. Und als Sängerinnen sind mir besonders die Altistin Hannah Elisabeth Sußmann und die Soprane Katrina Krumpane und Dana-Aliza Muszkatblit aufgefallen.
Noch einmal gehen wir ins Museum, wenn wir die Aida an der Staatsoper unter den Linden besichtigen. Die Bühne ist in ein ägyptisches Museum verwandelt, und den Schaukästen entsteigen die Figuren unter den Blicken von westeuropäischen Kunstliebhabern: So wird ein kolonialer Blick suggeriert und ein Rahmen gegeben. Dann ergeht sich die Aufführung aber doch in ziemlich platter Folklore, die wie Ferienanimation in einem bulgarischen Ferienklub anmutet, und in der die Sänger funktionieren wie singende Statuen (Waltraut Meier singt eine elegante Almeris, Michèle Crider eine grundsolide Aida und Franco Farina einen etwas groben Radames). Dazu läßt Simone Young die Staatskapelle sehr aufgekratzt spielen. Momentelang kann man sich in diese melodramatische Traum- und Schauerwelt mitnehmen lassen, die blauen Farbtöne laden dazu ein. Aber es bleibt bedauerlich, wie wenig ein Regisseur offensichtlich mit der Geschichte als solcher anfangen kann. Deshalb und weil es ins Konzept paßt, läßt er die Protagonisten am Ende in die Mumie steigen.
Wenig Vertrauen in die Geschichte hatten auch die Bearbeiter von Schwanensee, der derzeit an der Lindenoper getanzt wird. Auch hier haben wir zusätzlich zum Guckkasten, der die Bühne immer schon rahmt, eine weitere Ebene in der Beziehung der Königin zu ihrem Sohn Siegfried, der romantisch deliriert und umkommt, statt als Held den Oberschwan zu erlösen und mit diesem durchzubrennen. Was oben Museum war, ist hier Psychologie, aber den für das Ballett typischen Nummernrevuen (der Prinz läßt vortanzen, hier übrigens in Personalunion mit dem neuen Chef des »Staatsballetts«, Vladimir Malakhov) tut das keinen Abbruch. Warum soll man eigentlich nicht in dieser Märchenhandlung verbleiben dürfen? Die Erlösung jedenfalls bleibt aus, und man schwelgt dann lieber in Erinnerungen an russische Aufführungen, in denen selbst die Musik viel breiter, ergreifender, pathetischer angelegt ist, in denen die Schwarz-Weiß-Kontraste nicht in Pastelltöne verwischt wurden. Aber das Schwanencorps in seiner symmetrischen Perfektion und seinen Schwebebewegungen ist in Berlin große Sonderklasse. Das Ergebnis sind fanatisiert schreiende Fans.
Jetzt bleibt natürlich abzuwarten, was die neue Saison an Premieren bringt. Darunter sind im Schauspiel eine Reihe neuer, auch deutscher Stücke, die auf die Gesellschaft schauen. Die Deutsche Oper startet in eine neue Intendanz. Und mit der Komischen ist man von vornherein auf der sicheren Seite.