Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 25. Oktober 2004, Heft 22

Nachbar Nazi

von Paul Oswald

Nun also werden sich seit den vergangenen Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg von den Feuilletonisten die Finger darüber wundgeschrieben, wie mit den neuen parlamentarischen Spähtrupps der Nationalen umzugehen sei: schneiden, angreifen, diskutieren, einladen, ausladen … Sie schreiben über Apfel und Voigt und über diesen oder jenen Abgeordneten, darüber, wie unsäglich deren Ansichten doch eigentlich seien. Als ob diese Handvoll Hanseln das wirkliche Problem darstellten.
Aber wahrscheinlich muß einfach so getan werden. Denn anderenfalls müßte auf die Argumente der Rechten eingegangen werden und – vor allem, vor allem! – auf die Gemütslage ihrer Wähler. Das sollte sich doch nun wirklich herumgesprochen haben: Ich kann ja beispielsweise die Herren Apfel oder Voigt zu Dumpfbacken erklären, ich kann sie vorführen, lächerlich machen, ihnen per Satire eins überhelfen, sie karikieren – doch nicht ein Problem habe ich damit gelöst, nicht eines! Denn es geht gar nicht um sie oder die vielleicht drei oder vier Dutzend Funktionäre, die die Bewegung ausmachen, sondern es geht um ihre Wähler. Und jede unsachliche Attacke gegen die Funktionäre wird die Wähler in ihrem Frust über die parlamentarische Demokratie bestärken und sie noch enger an DVU, NPD oder Republikaner binden. Wer das Problem ernstnehmen will, muß auch die dazugehörigen Personen ernst nehmen, denn es sind unsere Nachbarn – Nachbar Nazi, sozusagen.
Aber es ist natürlich leichter, so zu tun, als hätten wir es sowohl bei den Wählern der Rechten als auch ihren Warten oder Amtswaltern ausschließlich mit Leuten zu tun, die uns eigentlich nichts angehen. Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß die Wahl eines sozusagen leichteren Weges bei der Auseinandersetzung mit diesem Problem auch dem Umstand geschuldet ist, daß sich gescheut wird, eine ergebnisoffene Ursachenforschung zu betreiben. Statt dessen muß sogar noch die Schimäre DDR herhalten, die mit ihrer – ich verkürze jetzt sehr – Undemokratie derzeitige rechte Verhaltensweisen von Teilen ihrer Bevölkerung begünstigt habe, »die wissen ja nicht, was Demokratie ist« – etwa so.
Dabei wird vollkommen ausgeblendet, daß die einstigen DDRler tatsächlich eine Art Nachholebedarf hatten. Hatten sich nicht ihre Brüder und Schwestern im Nachfolgestaat schon rechtzeitig im Umgang mit Altnazis und mit deren Rehabilitierung üben dürfen? Die Ostdeutschen hingegen waren »von den Russen« zu Antifaschismus verdonnert gewesen und konnten erst viel später mit ihren Kriegsgeschichten und ihren im Keller verkramten SA-Mützen herausrücken. Wenn doch nur einer dieser Großfeuilletonisten und Politiksachverständigen, die jetzt rechte Stimmungen im Osten zu einem quasi genetischen Defekt erklären, zum Beispiel nach der Wende öffentlich und nachdrücklich Sturm gelaufen wäre gegen das damals massenhafte Aufpolieren von Kriegerdenkmalen in Oststädten und -gemeinden (das war oft das erste, was sie in ihren Nestern nach dem Beitritt taten …), erschienen sie möglicherweise glaubwürdiger. Jetzt aber haben wir allen Grund zu der Annahme, daß sich mit ernstzunehmender Ursachenforschung schwer getan wird.
Und zwar nicht allein aus Unvermögen, sondern durchaus auch aus Kalkül. Denn schließlich haben die Eliten durch ihr Verhalten dazu beigetragen, daß das Wort Demokratie in Deutschland unterdessen auch als Schimpfwort gebraucht wird. Jeder Ackermann (der Name ist hundertfach austauschbar …) ein Sargnagel für die Demokratie? Zum Glück nicht ganz, noch gibt es funktionierende Gegenanzeigen. Doch wir können es drehen und wenden, wie wir wollen: Die Ackermänner sind, ob sie oder wir es wahrhaben wollen oder nicht, kräftig daran beteiligt, daß sich die Rechten ihr Gebäude namens »Sauberes Deutschland« Stück um Stück zusammenbosseln können. Und beim Barte des Propheten (und meinetwegen auch des Bundestagspräsidenten …): Solange nicht auch über diese Ursachen für deutsches Rechtstum und Rechtstun öffentlich diskutiert wird, solange so getan wird, als kämen die Neos aus dem Nichts oder allein aus den Köpfen der Apfel-Frey-Voigt – solange werden die Feuilletons nicht aus dem Schwafeln herauskommen.
Aber vielleicht können wir das ja dereinst alle miteinander nachts auf der Pritsche ausdiskutieren. Aber leise, damit es der Kapo nicht hört.