Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 25. Oktober 2004, Heft 22

Liebe zu Zeiten des Neoliberalismus

von Wolfgang Beutin

In den Katalogen moderner Antiquariate wird jetzt die Weltgeschichte der Prostitution von den Anfängen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts von Paul Dufour (1806 – 1884) angeboten. Es ist ein Nachdruck von 1995 der deutschen Fassung von 1905 (1350 Seiten). Es blieb das alte Geleitwort von 1905, es wurde neu ein Nachwort beigegeben, verfaßt von Eva Maria Nemeth. So ist die deutsche Version jetzt doppelt abgesichert: Geleitwort, Nachwort, die gefährliche Substanz »in der Mitten«.
Das Werk ist das Dokument einer auffallend schizoiden Einstellung; die Darstellung ein beständiges Schwanken zwischen einer aufdringlichen Moralpaukerei und einer auf Geilheit der Leser spekulierenden Ausmalung erotischer Szenen, diese im Wechsel mit aufgebauschtem Horror.
In der Einleitung heißt es sofort: »Das Wort ›Prostitution‹, das wie mit einem glühenden Eisen eine der traurigsten Schwächen der Menschheit brandmarkt … die Prostitution eine der schimpflichsten Plagen der Menschheit ist … diese schändliche Plage … hat in der Philosophie der Alten und in der christlichen Religion ein gewaltiges Linderungsmittel … Doch ist nicht zu hoffen, daß sie gänzlich verschwinden wird, weil die schändlichen Triebe, denen sie entgegenkommt, unseliger Weise dem Menschengeschlechte angeboren sind; aber man darf mit Sicherheit voraussagen, daß sie sich eines Tages tief in ihre geheimen Lasterhöhlen zurückziehen … wird.« Einmal von der Moralinsäure abgesehen: nichts als Irrtümer. Antike Philosophie, christliche Religion »gewaltiges Linderungsmittel«? (»Gewalttätiges« wäre da schon eher richtig.) Die Prostitution, wem müßte man das heute noch eigens mitteilen, und die Sexualität sind miteinander verlötet; aber Triebe sonst, denen die Prostitution angeblich »entgegenkommt«, wissenschaftlich nicht nachweisbar. Vielleicht erlischt eher die christliche Religion, als daß die Prostitution sich »tief in ihre geheimen Lasterhöhlen« zurückzöge? Hierauf eine Art freiwilliger Selbstverpflichtung des Autors: »Wir werden niemals vergessen, daß das Werk, welches wir zu Nutzen der Wissenschaft schreiben, auch gleichzeitig der Moral dienen soll, und daß seine Hauptaufgabe darin bestehen soll, einen Fehler verabscheuenswert zu machen, indem es seine Schändlichkeiten ans Licht zieht.«
Der Verfasser erklimmt den Gipfel unfreiwilliger Komik, wenn er verrät, daß er den Leser zum Voyeurismus anzuleiten gedenkt (im Namen von Gott und Vaterland!): »… wir werden uns in die königlichen Gärten des Parc aux Cerfs einschleichen(!), wir werden mit verhülltem Gesicht in die verpesteten Kämmerchen des Palais-Royal hinabsteigen; und immer und überall werden wir mit Flammenschrift auf das Gemäuer folgendes Urteil schreiben: ›Ohne Sitten giebt es weder Gott noch Vaterland; weder Friede noch Glück.‹«
Vorangegangen in Ächtung der Schande sei – der Papst. »Seit achtzehn Jahrhunderten schleudert der Stuhl Petri Donner und Blitz in den Pfuhl der Prostitution. Hier ist Schmutz und Finsternis, dort eine heilige Flut …« Ausgeblendet bleibt das Faktum, daß Donner und Blitz in Wahrheit nicht allzu weit zu schleudern waren; es sind in der Kirchengeschichte bekannte Tatsachen, daß mehr als ein Papst aus finanziellen Erwägungen in Rom ein Bordell gründete; daß Dante im christlichen, aufs stärkste kirchlich geprägten Mittelalter beklagte, ganz Italien sei ein einziges großes Bordell; und daß Luther den Papst den Hurenwirt über alle Hurenwirte nannte.
Damit im Einklang wird in dem voluminösen Geschichtswerk gegen Ende hin sehr offen, wenn auch im Widerspruch zum zuvor Zitierten, zugegeben: »Die Kirche war im Mittelalter zu einer alles überwältigenden Macht gekommen, die aber keineswegs zu Gunsten der öffentlichen Sittlichkeit eintrat, mögen auch hie und da strenge Maßregeln gegen die Prostitution angedroht und vielleicht auch ausgeführt worden sein. Päpste und Kleriker führten ein zügelloses Leben, Klöster glichen Bordellen und waren Stätten wüster Orgien. … die Sittenverderbnis überschritt alles, was in früherer Zeit vorgekommen war …« Diese »Sittenverderbnis«, fungierte etwa sie als »Linderungsmittel«?
Als Beispiel eines grundlegenden Irrtums sei angeführt der Satz: Die Prostitution in ihren Hauptformen »erscheint … mehr als Folge eines Handels als des sklavischen Druckes, denn sie geschieht immer freiwillig und ohne Zwang. … wie die anständigsten Handelszweige hat sie kein anderes Ziel als Gewinn und Nutzen«. Gewiß sticht die Prostitution, was den Anstand angeht, zu ihrem Vorteil von den meisten übrigen »Handelszweigen« ab. Doch wenn das so ist, weshalb sollte dies »Anständigste« dennoch eine »schändliche Plage« sein? Aber in Wahrheit sind eben doch Druck und Zwang allzu häufig mit der Prostitution verbunden; die Polizeiprotokolle und Gerichtsberichte der Gegenwart bezeugen es mit aller Deutlichkeit.
Was den Skandal, den dies Buch darstellt, vollends abrundet, ist das dem Text angehängte Nachwort der Frau Nemeth. Daß Prostitution ein verabscheuenswerter »Fehler« sei, steht zu Beginn. Nun aber, am Ende, propagiert Frau Nemeth eben diesen »Fehler« als die »Rettung« der Sexualität, eine expansive Prostitution als Zukunft der Liebe: »Der in Geld abgegoltene Vertrag ›Du erfüllst meinen konkreten Wunsch und erhältst dafür soundsoviel Taler‹ hemmt das Asoziale, nach Gewalt Trachtende im sexuellen Begehren, zähmt das Explosive allein dadurch, daß ein Kauf eben ein Vertragsverhältnis konstituiert.« (Nicht doch; die Währung heißt Euro. Taler will heute niemand mehr.)
»Bezogen auf den ›Megatrend‹ unserer westlichen Gesellschaft – Individualisierung und Singleisierung (welch Wortmonster! – W. B.), Ersetzung aller verwandtschaftlichen, freundschaftlichen, nachbarschaftlichen und sonst aus Gemeinschaftsbindungen herrührenden Hilfen und Dienste durch bezahlte Leistungen – könnte dies bedeuten, daß die Sexualität der Zukunft wesentlich durch Prostitution, durch die Ablösung von Gewalt und Unterdrückung durch Geld bestimmt sein wird.« Diese Passage liest sich übrigens wie abgeschrieben aus einem sehr berühmten früheren Dokument, dessen Verfasser Karl Marx und Friedrich Engels hießen!
Was sich in solcher Ausführung manifestiert, ist – was einer abermaligen Manifestation nicht bedürfte –: die bodenlose Naivität neoliberaler Konzepte. Die Vision einmal in Wirklichkeit verwandelt gedacht, würde herauskommen, daß Sexualität bald nur noch für die zu haben wäre, die ohnehin fast alles haben, jedenfalls den Hauptanteil des Geldes, und daß diejenigen keine Sexualität mehr haben werden, die es nicht haben oder zu wenig davon. Es gab einmal eine Zeit, in der man der Psychoanalyse Sigmund Freuds »Pansexualismus« vorgeworfen hat. Die Ausführungen von Frau Nemeth tendieren dazu, im Einklang mit dem Neoliberalismus die Geschlechtsliebe in einen Panprostitutionismus überzuleiten.