Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 25. Oktober 2004, Heft 22

Harlem – kriminell

von Peter Bräunlein

Ich muß gestehen: Krimis lese ich gern.« Nur wenige bekennen sich so offen zu ihrer literarischen Leidenschaft wie der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Ernest Mandel. In seiner »Sozialgeschichte des Kriminalromans« Ein schöner Mord (1984) analysiert er Himes’ Krimis als »ein überzeugendes Bild der manchmal ausgelassenen, manchmal grotesken Szene von Harlem, deren tragischer Hintergrund – Ungerechtigkeit, Demütigung und Leiden – stets präsent ist.« Zwar schätzt Mandel deren »grundlegenden Realismus«, aber kritisiert ihren »bedauerliche[n] Reformismus […], der für die Mehrheit der unterdrückten Schwarzen eindeutig keinen ernsthaften Ausweg bietet«. Tatsächlich radikalisierte sich Himes in seinen späteren Romanen.
Chester Himes (1909 – 1984) stammte aus einer gutbürgerlichen schwarzen Familie. Er flog aus dem College und landete nach einem Juwelendiebstahl im Gefängnis. Nach der Entlassung ging er 1953 nach Frankreich und hatte dort viel Erfolg mit seinen Krimis, die aber in den USA lange unbekannt blieben. Himes bevölkert das New Yorker Schwarzenviertel mit Schwindlern, religiösen Fanatikern, Prostituierten und frühreifen Teenagern. Dabei geht es bei den ehrlichen schwarzen Polizisten Grave Digger (Totengräber) und Coffin (Sarg) Ed rauh, aber herzlich zu. Nur bei Gewaltkriminalität hört für die beiden der Spaß auf.
Weiße erscheinen im Harlem von Der Traum vom großen Geld (1959), Heiße Nacht für kühle Killer (1959) und Fenstersturz in Harlem (1959) nur als mißgünstige Polizeivorgesetzte oder Sexualverbrecher. In Die Geldmacher von Harlem (1957) etwa überlisten schwarze Gangster einen tollpatschigen Schwarzen, doch etliche Tote später gewinnt der die attraktive schwarze Gangsterbraut und beginnt mit ihr ein neues Leben. Zur Auflösung des Falles tragen Weiße nichts bei. Sie liegt ganz in den oft kräftig zuschlagenden Händen von Grave Digger und Coffin Ed.
Während in den USA der sechziger Jahre die Black Panther und die Bürgerrechtsbewegung für einen radikalen sozialen Umbruch eintraten, wurde Chester Himes in seinem europäischen Exil immer pessimistischer. In Lauf Mann, lauf (1966) erschießt ein weißer Polizist ungestraft schwarze Arbeiter, bis fast zum Schluß gedeckt durch seinen ermittelnden Schwager. Seinen unvollendeten letzten Roman Plan B schrieb Himes Anfang der siebziger Jahre. Er ist eine Vision apokalyptischer Gewalt, in der nicht nur die beiden Polizisten sterben, sondern auch tausende Unschuldige durch Terror umkommen.
Im gleichen Jahr wie Himes starb auch der weiße New Yorker Ernest Tidyman (1928 – 1984), dessen Shaft-Romane und Shaft-Verfilmungen in den siebziger Jahren in den USA ein großer Erfolg waren. Beim Pendragon-Verlag erschienen bisher fünf der insgesamt sieben Romane um den schwarzen Privatdetektiv Shaft.
Anders als Himes’ harte, aber ehrliche Polizisten, über deren Privatleben der Leser kaum etwas erfährt, ist Shaft ein reicher Casanova, der sich nach der neuesten Mode kleidet und aus Harlem weggezogen ist. Dort toben mittlerweile Kämpfe zwischen schwarzen Gangsterbossen und der Mafia. Dazwischen stehen schwarze Militante und eine hilflose weiße Polizei.
Shaft schreckt noch weniger als Grave Digger und Coffin Ed vor Gewalt zurück. Doch während die beiden zumindest in Himes’ frühen Romanen von einer Welt ohne Gewaltverbrechen träumen, ist Shaft nur noch zynisch. Zwar hat er vage Sympathien für die Forderungen der radikalen Schwarzen, aber er hält diese für unfähig, tatsächlich eine Revolution durchzuführen. In Shaft und das Drogenkartell (1970) bringt Shaft die Möchtegernrevolutionäre dazu, den schwarzen Gangsterboß gegen die weiße Mafia zu unterstützen. Schwarze moderate Politiker tauchen in Shaft und das Mordkomplott (1973) und in Shaft und die verlorenen Söhne (1973) als angepaßte Opportunisten auf. Ihre arroganten Kinder schicken sie auf teure Privatschulen.
Während Grave Digger und Coffin Ed eine zwar manchmal verschwommene, aber doch vorhandene Linie zwischen Gut und Böse ziehen, arbeitet Shaft ohne Bedenken für Gangster, solange nur seine Bezahlung stimmt. Führt Himes’ politische Radikalisierung zu chaotischer Gewalt, schlägt sich Tidymans Shaft mal mehr, mal weniger gut durch. Er ist sich des antischwarzen Rassismus ebenso bewußt wie Himes’ Polizisten; aber er hat die Hoffnung auf einen tiefgreifenden sozialen Wandel aufgegeben. Shaft paßt sich an, kämpft mit allen Tricks und ist damit trotz aller Diskriminierung recht erfolgreich.
Mit Tidymans Shaft identifizierten sich in den USA in den siebziger Jahren weit mehr schwarze (und weiße) Leser und Kinobesucher als mit Himes’ redlichen Polizisten. Marxisten hätten daraus Schlüsse zu den Möglichkeiten einer Emanzipation der US-Schwarzen ziehen können, wenn sie nur genau genug hingesehen hätten und Tidyman nicht – wie Mandel – ignoriert hätten. Heute allerdings sprechen Himes’ raffinierter konstruierte Krimis weit mehr an als Tidymans schwarzer James-Bond-Verschnitt.

Chester-Himes-Krimis im Züricher Unionsverlag, Shaft-Krimis bei Pendragon Bielefeld