Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 11. Oktober 2004, Heft 21

Der Untergang. Aufsatz eines Jungmädels

von Klaus Hansen

Jetzt verdient Hitler wieder die bürgerliche Anrede, jetzt ist Hitler wieder ein Herr. So wie mein Vater ein Herr ist und ich eine junge Dame kurz vor dem Abitur bin. Kein »Führer« mehr oder »Scheusal« oder gar »Monster«, sondern ein älterer Herr, etwas verwirrt zwar, aber immer väterlich und gut zu seiner Schreibkraft. Ein uneitler Mann, der mit dem Gesinde zu Mittag aß und die Köchin mit dem polnischen Namen für ihr Nudelgericht lobte. Ein Tierfreund war er und ein großer Junge, der seine Freundin umständlich auf den Mund küßte, vor allen Offizieren, die gar nicht hingucken konnten. Mit wenigen Lauten, Blicken und Gesten vermochte Herr Hitler so viel Anteilnahme und Warmherzigkeit auszudrücken, daß ich als Frau manchmal hin und weg war.
Herr Hitler hat es nicht leicht gehabt, bis zuletzt nicht. Seine Untergebenen nervten ihn durch ihren entsetzlichen Gehorsam. Seine alten Weggefährten provozierten ihn durch ihre feige Hinterhältigkeit. Seine Soldaten enttäuschten ihn durch ihre Unfähigkeit, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Sie alle trieben Herrn Hitler in den Wahnsinn. Manchmal mußte er schreien, so verzweifelt war er über seine Leute. Manchmal fraß er all seine Enttäuschung in sich hinein, und man hörte nur, wie es zwischen seinen Fingern knackte und ein Bleistift zerbrach.
Herr Hitler mochte die Politik nicht. Er war eher ein Künstler, ein Architekt, der aus Deutschland ein großes Bauerwartungsland machen wollte, um seine großartigen Bauwerke darauf zu errichten, mit denen wir Rom und Athen in den Schatten gestellt hätten.
Herr Hitler kam aus einfachen Verhältnissen und wollte immer nur eins: einer von uns sein. Privilegien und Vergünstigungen lehnte er ab. Aber manchmal wurde auch er schwach und genoß das eine oder andere Vorrecht. Bei der Eheschließung mit seiner stets frohgemuten Eva protestierte er nicht, als der Standesbeamte ihm den Nachweis seiner arischen Abstammung erließ. Aber das macht ihn erst recht sympathisch, denn ein Mann ohne kleine Schwächen wäre ja unheimlich.
Vielleicht war Herr Hitler falschen Beratern in die Hände gefallen. Ich glaube sogar fest, daß es so war. Dieser Goebbels zum Beispiel, ein zynisches Schwein mit dem Aussehen eines Untoten. Ich hätte ihn am liebsten gekillt!
Zuletzt stand Herr Hitler mit dem Rücken zur Wand. Die Verantwortung für die Millionen von Menschenleben hat er nicht auf seine Mitstreiter abgeschoben oder auf die Russen, die ja tüchtig mitgeschossen haben, wie wir alle sehen konnten. Nein, Herr Hitler hat alles auf die eigene Kappe genommen. Er hätte ja auch versuchen können, abzuhauen und seine Haut in Sicherheit zu bringen, um sich mit Frau und Hund einen schönen Lebensabend zu machen. Aber nein, er hat sich erst anständig von seinen Leuten verabschiedet und dann in einem überlegten Akt selber umgebracht. Auf diese Weise hat er sich mit den Opfern, die längst nicht alle nur seine Opfer waren, gleichgemacht.
Ich glaube, es gibt nicht viele Menschen von dieser inneren Größe.