Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 11. Oktober 2004, Heft 21

Aufenthalt

von Gerd Kaiser, z. Z. Warschau

Polen sei, so unisono zeitgeistige Politiker und Journalisten, in Europa angekommen. Daß es an- und in einigen Bereichen auf den Hund gekommen ist, sieht und riecht man nicht nur im und am Warschauer Hauptbahnhof Centralna – »angekommene« Obdachlose und mehr Schluckspechte als jemals zuvor, die einem über den Weg laufen oder am Wegesrand ihren Rausch ausschlafen. Bahnreisende seien gewarnt.
Der Zahl der Skandale nach dürfte Polen allerdings bereits vor seinem EU-Beitritt mit dem »alten Europa« gleichgezogen haben. Auch hierzulande geht es zumeist um Bestechliche aller Ebenen und Parteiungen. Deren Begehrlich- und Gefälligkeiten sorgen im verschlafensten Pipidowka wie in der größten Stadt gleichermaßen für Unmut.
Neu ist: Es werden in Polen jetzt auch jene Skandale öffentlich verhandelt, in die Kirchenmänner verwickelt sind. Pater Rydz, das polnische Maschinengewehr Gottes und Chef des allgegenwärtigen und einträglichen Radio Maria, hat sich einen Hubschrauber zugelegt. Und für sichere Bodenhaftung ließ er einen Audi anschaffen, selbstverständlich den teuersten Audi A 8. Nun weigert er sich mannhaft, die Geldquelle(n) für diese und noch andere Erwerbchen offenzulegen.
Pater Henryk Jankowski aus Gdansk gilt vielen Polen als Säulenheiliger der »alten« Solidarnosc. Trotz dieses Heiligenscheins muß er jetzt vor dem Staatsanwalt aussagen. Eine Mutter hat ihn angezeigt. Der Prälat habe mit ihrem Sohn, Ministrant in Jankowskis Kirche zur Hl. Brygida, nicht nur Lustreisen nach Berlin und Rom unternommen, sondern dem Jungen außerdem noch großzügige Geschenke im Wert von tausenden Złoty gemacht. Auch das Nachtlager soll er mit ihm geteilt haben. St. Pölten auf polnisch?
Zwar hat sich die Zahl der Kirchen im vergangenen Jahrzehnt verdoppelt (von etwa 8000 auf 16000), nicht jedoch die Zahl der Kirchgänger. Edward Gierek, seinerzeit Chef der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei und heute allen Umfragen zufolge wohlgelittenster Politiker Polens nach dem Zweiten Weltkrieg, ließ zu Kommunezeiten anläßlich der 1000-Jahr-Feier Polens tausend Schulen neu errichten. Allerdings hatten nur wenige dieser neuen Schulen etwas mit Architektur zu tun gehabt – so wenig wie die neuen Kirchen der vergangenen zehn Jahre auch. Man kann da, unterwegs im Lande, überall auf wahre Monster treffen. Sie symbolisieren allein Macht, Macht und nochmals Macht. Kurzum: Polen ist in seiner Vergangenheit angekommen.
Auch mit der U-Bahn: Baubeginn war noch zur Zeit der »Kommune«. An der Warschauer Metro kann sich die Berliner U-Bahn mehr als eine Scheibe abschneiden. Die Warschauer ist zu jeder Tageszeit sauber, zudem nirgends jene Schmierereien, die mit Grafittis so wenig zu tun haben wie ein Pinscher mit einem Neufundländer. Die Treppen und Böden sind aus poliertem Naturstein, die Bahnhöfe und die Wagen geräumig, Fahrten preiswert (Rentner zahlen 1,25 Złoty pro Fahrt und 3,70 Złoty für eine Tageskarte und damit deutlich weniger als einen Euro für einen ganzen Tag U-Bahn; sind sie älter als siebzig, fahren sie kostenlos). Sehr wahrscheinlich »rechnet« sich das nicht, und wir dürfen nun Wetten darüber abschließen, wann die Brüsseler Kommissare und ihre Warschauer Vollstrecker mit diesem Sozialklimbim aufgeräumt haben werden …
Der Handel ist fest in ausländischer Hand. Die Ketten, wir kennen sie alle. Bei der britische Kette TESCO sind die Angestellten – wie in anderen Handelsbetrieben auch – uniformiert (das hätte sich die »Kommune« mal erlauben sollen …); aber – und das ist neu und erstaunlich: TESCO hat seine Lizenz für Polen nur mit Auflagen erhalten. Obst, Gemüse, Fleisch- und Fleischwaren, Fisch- und Fischwaren, Molkereiprodukte und so weiter müssen aus Polen stammen. Deshalb kann man sich dort beispielsweise mit frischen und nach Apfel duftenden Klaräpfeln eindecken oder mit Tomaten, die nach Tomate und nicht nach Holland schmecken. Auch Danone darf seine Produkte nicht aus Niedersachsen oder sonstwoher ankarren, sondern muß sie in Polen herstellen. Das Sprichwort »Erst nach dem Schaden wird der Pole klug« trifft somit nicht mehr generell zu, dem Schaden ist – zumindest vorläufig – vorgebeugt. Auch die Bäcker auf dem flachen Land – wo wir einige Tage verbrachten – backen vorläufig noch richtiges Brot für unterschiedliche Geschmacksrichtungen und verzichten auf die Chemotherapie »europäischer« Backwarenfabriken.
Von Klugheit zeugen nicht nur die tausend neuen Schulen jener längst vergangenen Zeiten, sondern auch die derzeitigen Investitionen in die Zukunft. Ohne Aufhebens und ohne die im politischen Geschäft des alten wie des neuen Europa übliche Schaumschlägerei, dem vielen Geschrei und der wenigen Wolle zum Beispiel in Sachen Eliteuniversitäten, hat sich die Warschauer Universität eine in Europa einmalige Universitätsbibliothek zugelegt. Zu Füßen der auf dem hohen westlichen Weichselufer gelegenen traditionsreichen Universitätsgebäude, liegt, eingebettet in eine Gartenanlage und unweit des Weichselstroms ein modernes Bauwerk. Es bietet den Studenten und ihren Lehrern exquisite Arbeits- und Lernbedingungen. Dieser Universitätsbibliothek dürfte in puncto Qualität vorläufig nichts Annäherndes im alten Europa gegenüberstehen. Wer jemals in den versifften und verschmierten Einrichtungen der Freien Universität Berlin gearbeitet hat, weiß, wovon die Rede ist. Das Wichtigste ist jedoch der ungehinderte und kostenlose Zugang für jeden Wißbegierigen. Das Ganze ein Schmuck- und Paradestück wissenschaftlichen Alltags.
Der Architekt Marek Budzynski hat dafür gesorgt, daß im Inneren wie im Äußeren die Welt und die Atmosphäre von Kultur und Wissenschaft herrscht. Zwischen Weichsel und Altstadt, eingebettet in Bäume, Sträucher, Gräser und Wasser erheben sich Glaskuppeldächer, innen wie außen begrünte Betonmauern und Glas-Trennwände; Buchhandlungen, Kaffeestuben, Imbißecken, studentische Sozialeinrichtungen.
Der Bug spielt im Alltagsbewußtsein vieler Polen die gleiche Rolle, wie sie einst die Elbe bei Konrad Adenauer gespielt hatte: Der fand, ostwärts der Elbe beginne Sibirien, für Polen beginnt Sibirien ostwärts des Bugs. Freund Benon zieht hier am Bug, allen Normen zum Trotz Weintrauben und keltert Jahr für Jahr seinen Hauswein.
Da nicht nur im Wein Wahrheit liegt, sondern auch in wissenschaftlicher Forschung, hat Benon herausgefunden, daß die Pfarrei von Wyszkow, sie liegt am ostwärtigen Ufer des Bug, der 1920 kurzzeitig Sitz der in Moskau im Zeichen der Weltrevolution gebildeten Polnischen Revolutionsregierung war. Unter anderen gehörten ihr Feliks Dzierszynski, Julian Marchlewski und Feliks Kon an, allesamt sozialdemokratisch-kommunistisches Urgestein. Tuchatschewskis Rote Armee stieß derweilen auf Warschau vor, siebzehn Kilometer vor der Hauptstadt verblutete der Angriff bei Radzymin, im »Wunder an der Weichsel«. Der sozialkritische Schriftsteller Stefan Zeromski, der den Spuren der zurückflutenden Roten Armee folgte, konnte sich mit dem in der Pfarrei von der potentiellen Revolutionsregierung zurückgelassenen Zuckervorrat am Abend nach der Schlacht sowohl den Tee als auch das Leben versüßen.
Wieder in Warschau. Wir gehen zum Militärfriedhof Powazki, um Freunden und Familienangehörigen zu gedenken. Ein Meer von Blumen und brennenden Grableuchten. Nach dem im Sommer traditionellen allsonntäglichen öffentlichen Konzert am Chopin-Denkmal im Rosengarten des Lazienki-Parks von Warschau erhoben sich schweigend die Zuhörer, als um 17 Uhr die Sirenen im Gedenken an den Beginn des Aufstands am 1. August 1944 aufheulten.