von Klaus Hart
Eine bizarre Situation: Drinnen im vierstöckigen »Nucleus« spricht Bauhaus-Direktor Omar Akbar zu hunderten Slumkids, die euphorisch kreischen und jubeln – direkt davor auf dem Platz vor der großen Glasfront stehen jugendliche Banditen, die MPi lässig umgehängt, und verkaufen harte Drogen. Daß auch Jacarezinho von Banditenmilizen beherrscht wird – toleriert, hingenommen von den Autoritäten, unter anderem offizielle Menschenrechtsbeauftragte der Lula-Regierung –, erschreckt nur intellektuelle Schöngeister aus Europa mit sozialromantischen Ideen über Brasilien. Für Kinder wie Erwachsene in Jacarezinho ist das alles völlig normal. »Wir verstehen uns gut mit den Banditen«, sagt ein Bewohnervertreter, »die wollen ja auch, daß es mit der Favela vorangeht – die haben ja auch Kinder und wollen daher soziale Projekte.«
Omar Akbar wundern solche Äußerungen nicht. »An solchen Orten finden wir grenzenlose Widersprüchlichkeit, eine gefährliche Dramatik, mit der sich niemand beschäftigt«, so der in Afghanistan geborene, in Deutschland aufgewachsene Bauhaus-Direktor zum Blättchen, »ein allgemeines Phänomen.« Die Banditen sind Herren über Leben und Tod, halten ein neofeudales Schreckensregime aufrecht, verhängen Ausgangssperren, Staat und Eliten schauen zu. Die Favela-Bewohner sind Geiseln der Banditen des global vernetzten organisierten Verbrechens – die brasilianischen Bauhaus-Mitarbeiter müssen ebenso wie die Stadtverwaltung mit den Gangsterbossen verhandeln, brauchen deren Okay für sämtliche Projekte. Ein ethisch-moralisch sehr heikles Problem, auch für ausländische Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich auf sozialem Feld engagieren wie Akbars Stiftung – immerhin getragen vom Bund, dem Land Sachsen-Anhalt und der Stadt Dessau. »Das Bauhaus hatte mit der Drogenmafia direkt nichts zu tun – sämtliche lokalen Kontakte wurden von den Kollegen in Rio, der Stadtverwaltung aufgenommen.«
Für Jacarezinho in der Zehn-Millionen-Stadt Rio hat Bauhaus auf Einladung der Präfektur das Modellprojekt Celula Urbana, »städtische Zelle«, entworfen. Die Grundidee auch der folgenden Bauhaus-Projekte: Slumbewohner aus ihrer Isolation befreien, sie in das städtische Leben integrieren, Armuts- und Elendszonen Rios aufwerten.
Denn Jacarezinho mit rund hunderttausend Bewohnern liegt fern der berühmten Strandstadtteile Copacabana und Ipanema in der sogenannten Faixa de Gaza, Rios Gazastreifen, einer großen Favela-Region: Gestank, Enge, Ratten, Matsch und Müll – buntes, exotisches Menschengewimmel in Gassenlabyrinthen aus Bretterbuden, Backsteinkaten, sogar zweistöckigen Häusern, ähnlich Kalkutta oder Nairobi. Alles provisorisch und illegal, gegen jegliche Bauvorschriften errichtet. Täglich Schießereien, Feuergefechte zwischen rivalisierenden Banditenmilizen, zudem Schußwechsel mit der Polizei. In Brasilien werden jährlich über 45000 Menschen getötet – laut UNO mehr als im Irak-Krieg.
Der kastenförmige Nucleus – mitten in einem nach Bauhaus-Entwürfen bereits teilweise entkernten, sanierten Modellbereich von Jacarezinho – soll dessen kultureller Treffpunkt werden. Gedacht ist an Kurse für Medientechniker und Fotografen, an Konzerte und sogar an Ballett. Gleich neben ihm sollen nach Bauhaus-Ideen ein neuer Favelaeingang mit Fußgängerbrücke und ein Internationales Zentrum für Projekte in Armutsgebieten entstehen, außerdem Werkstätten für Mode und Design. Laut Bauhausdirektor Akbar fehlen dafür aber noch das Okay der Stadtverwaltung und die nötigen Gelder.
Akbar sieht sehr wohl das Risiko, mit dem Bauhaus-Projekt ungewollt an Sozialkosmetik, »Schönheitsreparaturen« teilzunehmen. Überall auf der Welt sei die Ignoranz der Politik in bezug auf städtische Problemgebiete massiv, gebe es für derartige Slumprojekte lediglich sehr schwache, kleine Lobbygruppen – belächelt von den Eliten, den Wohlhabenden. Brasilienweit wachsen die Slums rascher denn je, in Städten wie Rio und São Paulo um mehr als zehn Prozent jährlich. Die arme, verelendete Bevölkerung wächst pro Jahr um über vier Prozent.
Mit dem Jacarezinho-Projekt begann Bauhaus im Frühjahr 2000: »Wenn Millionen von Menschen in diesen Quartieren wohnen, ist es höchste Zeit, daß sich die Architekten etwas von ihrem Starallüren-Ambiente verabschieden, sich sozialen Fragen widmen«, sagt Akbar. »Bei den Architekturstudenten in Kairo, Teheran oder Rio findet man
beste Entwürfe – alles Kopien der Stararchitekten dieser Welt. Doch mit der eigenen Stadt hat man sich kaum auseinandergesetzt!« Kurz zuvor war der UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Wohnung, der indische Architekt Miloon Kothari, in Brasilien, hatte der stramm neoliberalen Lula-Regierung die Leviten gelesen. Das Menschenrecht auf eine angemessene Wohnung werde deutlich verletzt, das Wohnungsproblem müsse nationale Notstandsaufgabe werden – internationale Finanzhilfe brauche Brasilien dafür nicht. Die Lage in den Slums sei erschütternd.
Bauhaus-Direktor Akbar sieht es ähnlich: »Man kann Favelas mit relativ geringen Investitionen instandsetzen, Selbsthilfe mobilisieren – muß das aber politisch wollen. Und man muß die Partnerländer auffordern: Ihr selber müßt Ideen entwickeln, euch um eure eigenen Leute kümmern – und nicht die ganze Zeit sagen: Geberländer, Geld her! Es wird ja ständig nur nach Geld gefragt, das ist das Interessante. Doch mit Geld löst man diese Probleme nicht, es geht um mehr.«
Der Bauhaus-Chef, selbst aus der Dritten Welt, wagt sich damit an ein auch von den sogenannten Progressiven in Deutschland streng gehütetes Tabu: die fast durchweg hausgemachten Probleme in Ländern wie Brasilien. Und er schmeißt nicht, wie allgemein üblich, arme Länder und ihre stinkreichen, geldgierigen Machteliten in einen Topf, die sich gewöhnlich »Entwicklungshilfe« skrupellos aneignen. »Ein Teil der Infrastruktur jener Elitenherrschaft«, so beobachtet Akbar, »wird durch die Armen getragen – die machen denen oben den Dreck weg, als Dienstmädchen, Müllsammler, werden entsprechend übel behandelt.«
Und Dienstmädchen, Hausdienerinnen sind die größte Berufsgruppe des Tropenlandes – nicht zufällig kommt sie gerade jetzt in Deutschland bei Betuchten wieder in Mode. In den Favelas haust die spottbillige Arbeitskraftreserve der Eliten, sagt Rios Wirtschaftsexperte Marcelo Neri. Wer in Jacarezinho einen Job ergattern konnte, verdient nach neuesten Studien pro Stunde umgerechnet fünfzig Cents. Und nur, weil Brasiliens Unternehmer ihren Beschäftigten sehr oft bestenfalls Hungerlöhne zahlen, in Europa völlig unakzeptable, ungesunde, hochgefährliche Produktionsbedingungen beibehalten, brutalstes Sozialdumping betreiben, sind Kosten möglich, die erfolgreiches Konkurrieren auf Märkten wie auf dem in Deutschland ermöglichen. Doch Sozialdumping – siehe die Verlagerung deutscher Fertigung in Billigstlohnländer – wird inzwischen auch in Deutschland als völlig normal angesehen. Die sozialen Kosten sieht man in Slums wie Jacarezinho.
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