Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 16. August 2004, Heft 17

Von Thomas Mann zu Simon Dach

von Horst Grunert

Nachdem der Bürgermeister das Ereignis gebührend gewürdigt hatte, trat der deutsche Botschafter Alexander von Rom an das Mikrofon. Ich verkniff mir ein Lächeln. Niemand kann etwas für seinen Namen. Erfreulicherweise vermied er es, das Wort zu ergreifen, wie das bei solchen Anlässen die Regel ist. Er plauderte locker vor sich hin, in Deutsch natürlich. Wahrscheinlich spricht er nicht Litauisch. Das ist verzeihlich, denn – ich erfuhr es auch erst im Lande – das Litauische ist eine Sprache, die nur von den drei Millionen Litauern gesprochen wird, nur mit dem Lettischen eine verwandtschaftliche Beziehung hat und weder zum slawischen noch zum germanischen noch zum finnisch-ugrischen Sprachkreis gehört, dafür dem Sanskrit sehr nahestehen soll. Die charmante Dolmetscherin übersetzte souverän, und wenn sie gelegentlich den Gedankenflügen des Botschafters nicht zu folgen vermochte, nutzte sie die Gelegenheit, ihre eigenen Überlegungen zu dem Ereignis einfließen zu lassen.
Von den Ausführungen des Botschafters ist mir vor allem die beeindruckende Aussage im Gedächtnis geblieben, daß es ihm zum ersten Mal gelungen sei, seine Urlaubsreise in die Heimat so zu legen, daß sie seine Teilnahme an dem Ereignis möglich machte. Was für Probleme ein Botschafter doch hat! Selbstverständlich brachte er seine Freude darüber zum Ausdruck, daß das Ereignis zum ersten Mal in einem neuen Zeitalter begangen wird: im Zeitalter der Zugehörigkeit Litauens zur Europäischen Union.
Das Ereignis, dessen Zeuge ich zufällig wurde, war die Eröffnung der Thomas-Mann-Festwoche in Nida (Nidden) auf der Kurischen Nehrung. Sicherlich hatten alle der vielleicht fünfzig Teilnehmer der Feier – überwiegend Litauer, aber ein paar deutsche Feriengäste waren auch darunter – das Sommerhaus von Thomas Mann bereits besucht. Es ist – gewiß nach der eindrucksvollen Landschaft, die schon Wilhelm von Humboldt fasziniert hatte – die Hauptattraktion des Ortes. Thomas Mann hatte das Fischerdorf Nidden 1929 im Anschluß an einem Ferienaufenthalt im ostpreußischen Rauschen entdeckt. Die Schönheit des schmalen, 96 Kilometer langen Landstreifens vor der Memel-Mündung beeindruckte ihn so sehr, daß er sich entschloß, ein Stück Land von der litauischen Forstverwaltung zu pachten und den Auftrag zum Bau des Hauses zu geben. Schon im nächsten Jahre konnte er einziehen. So einfach ging das damals. Geld genug hatte er seit der 1929 erfolgten Verleihung des Nobelpreises.
Doch die problemlose Errichtung des Hauses ist um so bemerkenswerter, wenn man die politischen Umstände jener Zeit in Betracht zieht. Mit dem Versailler Vertrag war der nördliche Teil der Nehrung, der zum
Memelgebiet gehörte, Litauen zugesprochen worden, während der südliche Teil bei Ostpreußen verblieb. Nidden, nun Nida genannt, war also damals Teil Litauens. Das zweistöckige Holzhaus wurde von dem Architekten Herbert Reissmann aus Memel entworfen. Sein Stil lehnt sich wohlgefällig an die ortsübliche Bauweise an: Wie die meisten ehemaligen Fischerhäuser, die inzwischen zusammen mit vielen städtischen Neubauten überwiegend für die Unterbringung der Sommergäste, für Verkaufsläden und Restaurants genutzt werden, ist es in einem eigentümlichen Braun und Blau gehalten, das viele Maler magisch anzog, unter ihnen Lovis Corinth und Max Pechstein. Es liegt auf einem Hügel über der Küste des Kurischen Haffs, am nördlichen Ende des Ortes, und vom Arbeitszimmer aus hatte der Schriftsteller einen wundervollen Blick über das Wasser bis hin zum Festland. An einem solchen Platz, mit einer solchen Aussicht konnte es bei einem für die Schönheiten der
Natur so empfänglichen Künstler, wie Thomas Mann es war, nicht ausbleiben, daß hier große Literatur entstand. Mario und der Zauberer wurde hier geboren, große Teile von Joseph und seine Brüder ebenfalls.
Thomas Mann war es nur vergönnt, die drei Sommer der Jahre bis 1932 in Nidden zu verbringen. Als die Nazis ihre Diktatur über Deutschland errichteten, gingen die Manns in die Emigration. 1939 besetzte Hitler-Deutschland das Memelland, gedeckt durch den Hitler-Stalin-Pakt, in dem der Sowjetunion die baltischen Staaten als Einflußgebiet überlassen wurden. Das Sommerhaus von Thomas Mann wurde Eigentum des Reiches. Bald übernahm es Göring als Jagdsitz.
Die Stadt Memel, eine Gründung der Ordensritter, besiedelt und gestaltet von Litauern, Deutschen und Russen, trägt wieder den litauischen Namen Klaipeda. Der Ort wurde am Ende des Zweiten Weltkrieges schwer zerstört. Riesige Wohnviertel aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zeugen davon, daß hier ein bedeutendes Industriezentrum errichtet werden sollte. Der Hafen wurde ausgebaut und spielte besonders für die Beziehungen zur DDR, für die Fähre Mukran – Klaipeda, eine große Rolle. Russische Arbeiter und Ingenieure wurden in großer Zahl angesiedelt. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Trennung Litauens von Rußland ist das alles weggebrochen. Die Arbeitslosigkeit ist extrem hoch. Der Stadt ist es anzusehen. Das Ännchen von Tharau gewidmete Denkmal, die der in Memel geborene deutsche Dichter Simon Dach einst besang, steht zwar wieder, doch die schöne Pfarrerstochter schaut gar bekümmert auf die Buden der Händler, die sich unter ihren Augen ausgebreitet haben.
Doch zurück zur Thomas-Mann-Festwoche. Über Europa wurde viel gesprochen. Das Wort Rußland aber fiel nicht ein einziges Mal. Immerhin liegt die litauisch-russische Grenze, die Grenze zum Gebiet Kaliningrad, kaum fünf Kilometer von Nida entfernt. Die Zuwanderer aus Rußland sind geblieben, wohin hätten sie auch gehen sollen? Sie machen heute mehr als ein Drittel der Bevölkerung von Klaipeda aus. Während der Zugehörigkeit Litauens zur Sowjetunion wurden sie als Fremde, als Eindringlinge betrachtet. Man läßt es sie heute fühlen, daß sie eine Minderheit ohne Macht sind. Thomas Mann hätte zur Versöhnung geraten.