Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 2. August 2004, Heft 16

Osmotische Selbsterkenntnis

von Klaus Hansen

In Klaus Theweleits neuem Buch (Tor zur Welt – Fußball als Realitätsmodell, Köln 2004) findet sich die Behauptung: Wer mitbekommt, was sich im Fußballspiel tut, »ist über andere Gesellschaftsbereiche osmotisch informiert«.
Wir wollen die These ernstnehmen und uns fragen: Spiegelt sich im gegenwärtigen Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft, wie in Portugal dargeboten, der Zustand unserer Gesellschaft wider? Selbstverständlich, wird der kritische Beobachter sagen. Um festzustellen, daß im internationalen Leistungsvergleich die Deutschen unteres Mittelmaß sind, brauchen wir nicht die PISA-Studie zu konsultieren, dazu genügt die Zuschauerschaft bei einigen Länderspielen.
Immer wieder wurde der Fußball als eine Gesellschaft im Kleinen und als Offenbarungsmedium betrachtet. Schon 1954, beim »Wunder von Bern«, erkannte man merkwürdige Parallelen zwischen Fußball und Politik. Seinerzeit täuschte Bundestrainer Herberger im Vorrundenspiel die übermächtigen Ungarn, indem er sie gegen eine deutsche Ersatzmannschaft 8:3 gewinnen ließ; also glaubten die Magyaren, als sie im Endspiel wieder auf Deutschland trafen, einen leichten Gegner vor sich zu haben. So jedenfalls geht die Mär. Der Ausgang ist allgemein bekannt. In Bonn täuschte Bundeskanzler Adenauer die Öffentlichkeit mit der Zusicherung, an eine Wiederbewaffnung der jungen BRD sei überhaupt nicht zu denken. In den Hinterstuben der Politik wurde indes die Gründung der Bundeswehr generalstabsmäßig vorbereitet. Waren also das Wunder von Bern und die Wiederbewaffnung Bonns nach gleichem Muster gestrickt?
Wäre der begeisternde Offensivfußball vom Anfang der siebziger Jahre ohne den Aufbrauch von »1968« und die Regierungsübernahme durch Willy Brandt denkbar gewesen?
Wären die Hoffnungen, die viele 1982 in die Kanzlerschaft von Helmut Kohl setzten, nicht frühzeitig zu relativieren gewesen, hätte man nur der Aussagekraft des Alibifußballs der Nationalelf unter Jupp Derwall geglaubt?
Wenden wir uns der Gegenwart zu. Was sagt uns der Fußball der deutschen Auswahlelf, aber auch das Verhalten des Deutschen Fußball-Bundes, über den Zustand der deutschen Politik und Gesellschaft? Sechs Mutmaßungen:
Erstens: Deutschland ist nicht schnell genug. Verglichen mit dem Gros der Europameisterschafts-Teilnehmer, spielte Deutschland einen langsamen Altherrenfußball. Wer zu langsam ist, muß zu spät kommen. Und wird nach dem berühmten Wort eines geläuterten Bolschewiken »vom Leben bestraft«.
Zweitens: Deutschland bildet sich zuviel auf die »deutschen Tugenden« ein. Härte, Ausdauer und Kampfgeist machten die deutschen Fußballer einst zu weltweit gefürchteten Rasen-Panzern. Heute zeigt sich, daß es den Wohlstandsprofis schwerfällt, diese »Tugenden« noch aufzubringen. Zudem zeigt sich, daß diese Tugenden nicht mehr ausreichen, wenn Schnelligkeit, Wendigkeit und Spielwitz damit kompensiert werden sollen.
Drittens: Deutschland ist selbstgefällig geworden. In Deutschland weist man gern und oft auf die drei Welt- und Europameister-Titel hin. Doch flößt man damit niemandem mehr Furcht und Respekt ein. Während man sich selbst noch als Weltmeister wähnt, spöttelt die internationale Konkurrenz bereits über den »Waldmeister«. Zur Selbstgefälligkeit gehört es auch, die Vizeweltmeisterschaft von 2002 überzubewerten. Es waren nicht gerade Fußball-Großmächte, die man bis zum Endspiel gegen Brasilien aus dem Weg geräumt hat. Und vergessen wir nicht: Vizeweltmeister wird, wer verliert.
Viertens: Deutschland ist leidenschaftslos geworden. Spielt man nur unentschieden gegen Außenseiter Lettland, sagen die Spieler: »Vor drei Wochen hätten wir so ein Spiel noch verloren.« Verliert man das entscheidende Match gegen Tschechien, konstatiert Ballack cool: »Heute hat es eben nicht gereicht.« Wann hat man zuletzt unbeherrscht wütende oder in Tränen aufgelöste deutsche Fußballer nach einer Niederlage gesehen?
Fünftens: Deutschland hat verlernt sich zu schämen. Tschechien erlaubte sich im Spiel gegen Deutschland, bei dem es für Völlers Mannschaft um »alles« ging, eine Ersatzelf auflaufen zu lassen. Trotzdem verlor die deutsche A-Elf gegen die tschechische B-Elf mit 1:2. Der demütigende Vorführeffekt dieses Ergebnisses läßt die Deutschen kalt. »Das Potential ist da«, sagt trotzig der Trainer – und keine Spur von Scham.
Sechstens: Deutschland löst Probleme, indem es sie verdoppelt. Im DFB will man den ungeliebten Präsidenten loswerden. Also beläßt man ihn im Amt und stellt ihm einen zweiten Präsidenten zur Seite. Nachdem Teamchef Völler, der nur zweite Wahl war, als er seinen Job antrat, die Brocken hingeworfen hatte, stockt man kurzerhand das Gehalt des Trainers um hundert Prozent auf – und findet lange Zeit keinen Abnehmer. Mit der Konsequenz, daß der neue Coach dritte Wahl ist, nachdem Hitzfeld und Rehhagel abgelehnt haben. Dritte Wahl zu doppelten Bezügen.
Gibt es Hoffnung? Vielleicht verkörpern die Nachwuchsfußballer mit den gar nicht deutsch klingenden Namen die größte Hoffnung. Mit Asamoah wurde vor Jahren ein guter Anfang gemacht. Mit Leuten wie Kevin Kuranyi, Giuseppe Gemiti und Mimoun Azaouagh könnte es weitergehen: Deutschland den Eingedeutschten!