Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 16. August 2004, Heft 17

Nicht nur Kamele unterm Sternenhimmel

von Julia Michelis

Von Stralsund bis Oberammergau setzt das Kulturmanagement der Republik mit stetig wachsender Begeisterung auf Open-Air-Festivals. Ob mit Aida (drei echte Kamele auf der Freilichtbühne des Passionsdorfes!!!) oder mit der Zauberflöte überm Sund – die Gunst der Ferienzeit wird genutzt, neue Besucher mit Freiluftveranstaltungen zu locken. Auch Brandenburger Klöster, Schlösser, Herrensitze liegen hier im Trend. Schöne alte Architektur inmitten anmutiger Natur liefert romantische Kulissen für Musik und Theater unterm Sternenhimmel; da kann außer dem Wetter wirklich wenig danebengehen. Daß so eine Produktion aber mehr als einen launigen Sommerabend-Event bietet, erlebten wir jüngst bei der Premiere von Tschaikowskis Oper Jolanthe im Stift Neuzelle. Allen technischen und künstlerischen Beschränkungen von Freilichtbühne und Low Budget zum Trotz, haben hier Olaf Brühl (Regie) und Marco Comin (Musikalische Leitung) mit ihrem jungen Sängerensemble und dem fast genauso jungen Neuen Bulgarischen Sinfonie-orchester einen erstaunlichen Abend realisiert. Die Oper Oder-Spree präsentiert eine Aufführung, nach der man sich verwundert fragt, warum dieser Einakter aus dem Spätwerk Tschaikowskis als charakterlos und undramatisch abgestempelt, über hundert Jahre auf seine Wiederentdeckung warten mußte.
Die Geschichte um des guten König Renés Tochter Jolanthe, deren Blindheit mittels Todesdrohung brutal vertuscht wird, bietet nicht erst heute eine gelungene Auseinandersetzung um das Thema Wahrheit. Noch mehr besticht aber ihre dramatische Entwicklung: Ein Arzt, der Heilung bringen soll, macht das Wissen des Mädchens um ihre Situation zur Bedingung. Sein Beschwören der Einheit von Geist und Körper bedeutet nichts anderes als eine ganzheitliche Sicht auf den Menschen – doch mit solchen Visionen überforderte Tschaikowski seine Zeitgenossen offensichtlich. Auch das emanzipatorische Element des Werkes werden nur wenige erkannt haben: Jolanthe verliebt sich in den Grafen Vaudemont, der durch Zufall in ihr abgeschirmtes Paradies eindringt; er erwidert ihr Gefühl, aber macht ihr auch die Behinderung bewußt. Trotz ihrer Liebe kämpft sie vehement dagegen an, wegen dieser Blindheit von Vaudemont stigmatisiert zu werden. Und sie kämpft schließlich um die Operation, die ihr der Vater aus Sorge um den ungewissen Ausgang verweigert. Martina Wäldele schlägt sich in dieser ersten großen Partie nach dem Gesangs-Diplom stimmlich sehr achtbar, aber darstellerisch fehlt ihr einiges Selbstbewußtsein für die Dimension der Rolle. Allerdings hat sie auch keinen hilfreichen Partner. Sergej Bortnik legt als Vaudemont alle gestalterische Kraft in seine Stimme, mit deren strahlender Höhe er durchaus brilliert, doch in der Mittellage wirkt er blaß und als Partner Jolanthes fehlt es ihm an Spannung. Am meisten überzeugte Stefan Bootz; die Zerrissenheit seines Königs war um so berührender, je mehr seine stimmlichen und darstellerischen Mittel zu einer Figur zusammenwuchsen. Er realisierte auch das Konzept der Inszenierung am überzeugendsten: Das vermeidet nicht nur jede äußerliche Aktion, jede Ablenkung durch opulente Bilder, sondern erzwingt mit einer totalen Verlangsamung der Abläufe eine ungewohnte Konzentration auf das musikalische Geflecht der Geschichte. Tschaikowskis Komposition bildet in ihrem Reichtum ein eigenes Universum, unter anderem gespeist aus dem subtilen Wissen des Komponisten um Menschen und ihre Dramen, das sicher dem Shakespeares zu vergleichen ist.
Brühls Inszenierung bekennt sich zu einem Minimalismus, der bewußt das Werk mit seiner schillernden Komplexität in den Vordergrund stellt. Nachdem der Regisseur die nötigen szenischen Akzente gesetzt hat, zieht er sich gelassen zurück. Die Weichen sind gestellt, er überläßt der Musik den Raum. Der junge Marco Comin erobert gemeinsam mit seinem Orchester diesen Raum souverän. Unter seiner Leitung spüren die Musiker der Geschichte in all’ ihren Nuancen sensibel nach, um dann die Dramatik des Geschehens kraftvoll auf die Spitze zu treiben.
Diese Konzentration aufs Wesentliche führt zu einer neuen Art der musikalischen Erfahrung, denn Bedeutung und Schönheit des Werkes werden auf ungewohnte Weise erlebbar. In einer Zeit, da Opern- und Schauspielaufführungen mit Regieeinfällen bis zur Unkenntlichkeit zugekleistert werden, empfand ich diesen Dienst am Werk als Befreiung.

Letzte Vorstellungen: bis 15. August Frankfurt/Oder, Insel Ziegenwerder, Burg Beeskow, Hotline 01805/012300