Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 2. August 2004, Heft 16

Kein Niemandsland. Nirgends

von Kurt Merkel

Anfang des Jahres las Volker Braun im Berliner Theater im Palais aus unveröffentlichten Arbeiten. Er las mit seiner ostsächsischen Lautung, den nicht ganz offenen Vokalen und den ihnen weich folgenden Konsonanten. Und er schuf mit dieser Art seines Lesens den Eindruck von Vertrautheit, von Heimat, von der ja sein Text handelte. Braun, seine Sprechhaltung und seine Geschichte gehörten ganz unmittelbar zusammen. Das hob sich wohltuend ab von dem dummen Aufdrängen des Fremden, dem man immer wieder begegnet, wenn im Brandenburgischen etwa ein Restaurant für seine Brotzeit wirbt oder im Regionalzug von Berlin nach Küstrin die Leuchtschrift den Namen der nächsten – hollahi-hollaho – Haltestation verkündet. Braun las Texte, die sich um die bekannten Vorgänge im erzgebirgischen Schwarzenberg drehten, wo das Ende des Krieges erst ein paar Wochen später kam, und solche, in denen er der Herkunft der Brauns nachgeht. Der eine Band liegt nun vor, der andere soll in Kürze erscheinen. Das unbesetzte Gebiet ist der erste Text im gleichnamigen Band, der aber schon wegen seiner Länge – sechzig von 126 Seiten – eine eigene Betrachtung verdient.
Da ich vom Sprechen sprach, soll gleich gesagt werden, daß auch die schriftliche Fassung den mundartlichen Klang zeigt. Ganz ohne Hervorhebung oder Absetzung vom übrigen Text ist da vom Durchenanner die Rede, es erscheinen Männel und Häusel, und dann sinn se ähmd besiecht. Das ist aber viel mehr als Spiel mit heimatlichem Sprechen. Da wird eine zweite Schicht des Erzählten etabliert, die eine vom Wissen um die begrenzte historische Rolle des Dargestellten bestimmte humorvoll distanzierte Haltung zum Erzählten zur Grundlage hat und die handelnden Personen zu Schelmen macht, wie sie uns aus der klassischen pikaresken Literatur, etwa bei Grimmelshausen, bekannt sind. Die da die Macht zeitweilig ergriffen haben, drohen potentiellen Gegnern ihrer Maßnahmen an, mit Gewalt daroff zu antworten. Da weiß doch wohl der Leser, daß sie das nicht können. An anderer Stelle stehen die Helden freudeschlotternd da. Oder es heißt: Früh um 7 Uhr waren die Nasen wieder im Rathaus. Die Nasen, das sind die Mitglieder des Aktionsausschusses, die die Macht übernommen haben.
Braun läßt seine Geschichte am 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation beginnen, nicht ohne eine »Vorgeschichte« voranzustellen, in der die Rekrutierung des Jahrgangs 1929, der Todesmarsch aus den Lagern Lengenfeld und Osterstein, das Durcheinander der Flüchtlingsströme und das Nebeneinander der noch vorhandenen Macht der Nazis und des ersten Aufmuckens dagegen den historischen Ort bestimmen. Vor allem aber läßt Braun das Hauptthema anklingen: Am Anfang handele es sich um eine Geschichte im eigenen Gebiet, wo keine fremde Macht herrscht, wo die bestimmen, die sich um sich selbst kümmern, eine Geschichte im Niemandsland. Aber die herrschaftslose Zeit ende mit der gewollten Unterwerfung der Bevölkerung unter die neue Ordnung. Nichts sei im Gedächtnis der Bevölkerung geblieben von der Lust der Selbstbestimmung, dem Rausch der Gerechtigkeit. Damit entsteht eine weitere Ebene des Erzählens: Nicht nur 1945 ist der Gegenstand, sondern auch 1990. Nicht, indem das eine für das andere steht, aber indem auf sich wiederholende historische Abläufe verwiesen wird.
In der Braunschen Geschichte geht es noch um manches andere. Da ist auch die Auseinandersetzung zwischen den Kommunisten und den Sozialdemokraten, und da im Erzgebirge alle Richtungen ihre Vertreter hatten, treffen auch nun die Aufständischen von 1923 und die, die die Reichswehr gerufen hatten, aufeinander. Doch im Zentrum des Erzählten bleibt immer der sich als Utopie erweisende Gedanke einer Möglichkeit von Selbstbestimmung in einem auch von Ideologien freien Niemandsland.
Erzählt wird in anekdotisch zugespitzten, auf das Handeln weniger Personen konzentrierten Abschnitten davon, wie fünfzehn Kommunisten und Sozialdemokraten die Macht ergreifen und wie die anderen darauf reagieren. Am 10. Mai wissen sie, sie waren besiecht, und werden besetzt, dann sind sie befreit, es muß etwas geschehen, aber es geschah nichts. Einer hat Waffen versteckt, aber genug liegen überall herum: Sie waren im deutschen Wald. Sie schicken den Bürgermeister nach Hause, entwaffnen dessen Bürgerwehr und fahren auf einem Lkw durch die Stadt, sich bemerkbar zu machen. Das war ihr Recht der ersten Nacht. Am 11. Mai schließlich wird ihnen klar, sie waren also … der Aktionsausschuß … Nie war dergleichen geschehen, daß es nach niemandem ging. Es hatte sie niemand gerufen, und niemand ernannt. Sie waren im Niemandsland.
Das ist das alte Braunsche Thema: Was machen die Revolutionäre mit der von ihnen eroberten Macht? In früheren Texten zeigte Braun, wie die von ihnen eben zerstörte Machtpyramide von ihnen selbst mit neuer Besetzung wieder errichtet wird. Auch hier kann Braun keinen schöneren Ausblick öffnen. Die Umstürzler geben die Macht ab, sie laufen wie der Mattheuersche Sisyphos vor ihrer Aufgabe davon. Das unbesetzte Gebiet … war … vorläufig, rückständig und utopisch, anstößig für jeden Staat. Und nichts blieb ihnen (den Bewohnern) von der Epoche im Gedächtnis, außer dem Hunger, der Unsicherheit, dem Abgeschnittensein von der Welt und ihren Waren. Und sie vergaßen diese Angst, diese Freiheit, in der sie sich selbst bestimmten und Gerechtigkeit üben konnten, und wußten wieder, was für sie das Beste war. Übrigens ist dies ein Text ohne sächsische Distanzierung. Und ein Text nicht nur über Schwarzenberg, sondern über die DDR. Über die Möglichkeiten an ihrem Anfang und über ihr Ende. Und um keinen Zweifel daran übrig zu lassen, heißt es ganz am Ende: Geschrieben nach der Rückkehr in die Vorzeit. Mir scheint, mit dem jüngsten Buch von Christoph Hein (Die Landnahme) und diesem von Volker Braun liegen interessante Versuche des Rückblicks auf die DDR-Vergangenheit aus einer neuen Perspektive vor.

Volker Braun: Das unbesetzte Gebiet. Im schwarzen Berg, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004, 126 Seiten, 16,80 Euro.