Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 16. August 2004, Heft 17

Grenzgebiet

von Wolfgang Sabath

Kürzlich hielt es Holger Schmale, Innenpolitiker bei der Berliner Zeitung, für angemessen, den neuinstallierten Bundespräsidenten zu ermahnen (maßvoll, versteht sich, die Würde des Amtes …): Köhler nämlich hatte bei seinem ersten Präsidentenauslandsbesuch, der ihn nach Warschau führte, den Polen zu ihrer »Rückkehr nach Europa« gratuliert. Schmale merkte dazu in einem Kurzkommentar an, das habe sich ziemlich paternalistisch ausgenommen, denn schließlich habe Polen schon immer zu Europa gehört. Außerdem sei das ja so, als hätte man weiland die DDR-Bürger dazu beglückwünscht, wieder Deutsche geworden zu sein. (Hatte man uns etwa nicht …?)
Was die Polen angeht: Da hat Holger Schmale recht; aber wahrscheinlich hatten des Bundespräsidenten Redenschreiber beim Schreiben jene polnischen Dauerbeteuerer im Hinterkopf, die glauben, diese Selbstverständlichkeit immer wieder herausstreichen zu müssen. Und zwar in einer Art und Weise und zuweilen mit einer Hartnäckigkeit, die schon an Penetranz grenzen, so daß geradezu zwangsläufig der Anschein entstehen muß, als seien es die Polen selber, die insgeheim bezweifeln, wirklich Europäer zu sein. Dieses Verhalten ist nicht immer ganz leicht zu begreifen, zumal ja – Przepraszam! – auch jenseits des Bugs noch Menschen wohnen, und auch dort, jenseits der neuen stattlichen und großenteils EU-finanzierten militärischen Forts an der polnischen Ostgrenze, Europa eben nicht zu Ende ist.
Aber »die Polen« gibt es, natürlich, sowieso nicht. Zwischen eifrigen EU-Befürwortern der Warschauer Eliten und jenen in östlichen oder südöstlichen Landesteilen siedelnden Randpolen liegen mitunter Welten. Und die können zum Teil dermaßen weit auseinanderliegen, daß die traditionelle (Vorkriegs-)Unterscheidung – meist bezogen auf Lebensweisen und industriell-zivilisatorischem Entwicklungsstand – zwischen sogenanntem Polen A und Polen B nicht mehr greifen dürfte. »C« und »D« könnten da mühelos als Hilfsbuchstaben in Kraft gesetzt werden (wenn ich nur an die 98 Prozent Arbeitslosen in den Beskidentälern hinter Gorlice und Dukla denke …).
Zum Glück sind wir heute nicht mehr allein auf die offiziösen deutschen Fernseh- oder Rundfunkkorrespondenten angewiesen, wenn wir uns näher mit den Nachbarn und ihren Problemen beschäftigen möchten. Denn das Korrespondentenwesen, insbesondere im Fernsehen – es ist größtenteils zum Gotterbarmen und an Oberflächlichkeit häufig kaum zu übertreffen. Aber es gibt inzwischen auch zahlreiche ernsthafte Publikationen. Dazu zählt das Buch von Uwe Rada Zwischenland. Europäische Geschichten aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet. Es versammelt Interviews, Gespräche, Beobachtungen, Reflexionen – allesamt interessant und Ergebnis genauen Hinschauens und Zuhörens. Auch wenn Rada beim Zuhören öfter kritischer hätte sein sollen. Selbst Leuten, mit denen man vielleicht politisch auf einer Wellenlänge liegt, muß man nicht alles unbenommen abnehmen.
Nein, Ausgewogenheit hat der Autor bei der Auswahl seiner Partner nicht im Sinn gehabt. Aber da sich unsereiner nach den vergangenen fast anderthalb Jahrzehnten endlich daran gewöhnt haben sollte, daß es das, was einst in krudem Funktionärsdeutsch »Deutsch-Polnische Freundschaft« hieß, nach heute vorherrschender Lesart nie gegeben hat und die wahre Freundschaft, wie uns Altbundesländler wie Rada (1963 in Göppingen geboren, seit 1983 in Westberlin) und ihre hiesigen Zuträger ständig versichern, erst ab 1989/1990 erblühte, kann man das Buch ohne Groll und interessiert zur Kenntnis nehmen. Irgendwann muß man einfach aufhören, sich zu ärgern, es lohnt einfach nicht (zumal sich ja die polnischen Protagonisten einstiger Kontakte und Freundschaften heute meistenteils mehr als bedeckt halten; die Enerdowcy (von NRD = DDR) waren eben doch nicht die richtigen Deutschen gewesen ….
Als ich das Buch Uwe Radas las, hielt ich mich gerade in einem Grenzgebiet auf, und zwar dort, wo Polen, die Ukraine und die Slowakei aneinander stoßen. Und Rada machte mich auf etwas aufmerksam, auf das ich doch hätte längst selber kommen sollen, aber eben nicht kam: Das Grenzgebiet im Westen Polens ist – zum Beispiel verglichen mit jener Gegend, in der ich mich aufhielt – eigentlich gar kein Grenzgebiet. Jedenfalls nicht im üblichen, im klassischen Sinne. Hatte dieser Teil des Ostens zum Beispiel einst als politisch-kulturelle Einheit existiert – Stichwort: Galizien –, gab es zwischen dem heutigen Westpolen und dem derzeitigen deutschen Osten diese Verknüpfungen nicht. Im Klartext: Die Deutschen und Polen an Oder und Neiße verbindet fast nichts, jedenfalls nicht das, was die nachbarschaftliche Vergangenheit und Gegenwart der im Osten Polens beziehungsweise im Westen der Ukraine siedelnden Völkerschaften ausmacht(e).
Es können hier nicht alle Kapitel aus Uwe Radas empfehlenswerten Buch bedacht werden; aber nicht unerwähnt lassen möchte ich das erfrischende mit der Überschrift Wasserstand. 1997, »die Oderflut« – wie viele Deutsche sind eigentlich damals ertrunken? Keiner. Und wieviel Polen? Dreiundfünfzig. Das interessierte allerdings kaum, Deutschland war mit sich beschäftigt. Nein, das schreibt Uwe Rada natürlich nicht so; aber das »gesunde Volksempfinden« – trete vor, wer beschwören kann, das gäbe es nicht mehr! – hätte natürlich eine Erklärung dafür: polnische Wirtschaft, polnisches Mißmanagement; und vor allem hatten sie jenseits der Oder keinen Monsieur Monju, der sich widerspruchslos von eilfertigen Redakteuren den lächerlichen Titel »Deichgraf« anhängen ließ, obwohl er als Brandenburgischer Umweltminister nur das tat, was er in seinem Amte tun mußte und jeder andere auf seinem Posten auch getan hätte. Aber die Deutschen waren süchtig nach Helden. Das Oderwasser schwemmte sie ihnen an: »unsere Jungs von der Bundeswehr«. Lange nicht so gelacht. Rada hingegen bleibt natürlich sachlich.

Uwe Rada: Zwischenland. Europäische Geschichten aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet. be.bra verlag Berlin 2004, 256 Seiten, 19,90 Euro.