Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 30. August 2004, Heft 18

Entsicherter Journalismus

von Johann Spärlich

Auch aus der Sicht der Machthaber ist die Präsentation der Hartz-IV-Gesetze eine Katastrophe, wie immer mehr Politikern allmählich aufgeht. Dieser Dilettantismus und vor allem der Zynismus vieler Äußerungen (»Nach einem Monat ohne Arbeitslosengeld ist noch niemand bedürftig«, »1989 ging’s euch um die Freiheit, jetzt geht’s euch nur um Geld«) hat weit zurückliegende Ursachen.
Die Zerbröselung wirksamer Propaganda für soziale Einschnitte begann schon in der Ära Kohl. Nach dem Zusammenbruch linker Bewegungen und einer immensen Schwächung der Gewerkschaften schien es der Regierung immer weniger nötig, die Rücknahme der sozialen Rechte, die von den Vätern und Großvätern der heute Arbeitenden zäh erkämpft worden waren, auch plausibel zu begründen. Da den Einschnitten keine oder nur lauwarme Proteste folgten, wurden die Begründungen dafür immer schlampiger.
Ein strategischer Fehler, wie jetzt so manchem Politiker aufgeht. Die immer größere Unvorsichtigkeit der Politikerkaste und der Wirtschaftsbosse läßt alte Gürtel-enger-schnall-Legenden (»Es ist kein Geld da« – »Wir machen keine Umsätze mehr«) plötzlich als sehr fragwürdig erscheinen. Selbst Konservative werden allmählich nachdenklich. So verplapperte sich der neue Bundespräsident auf herzerfrischende Weise, als er zugab, man hätte den Menschen den Sinn der Reformen »schlecht erklärt«. Übersetzt in die interne Machthaber-Sprache heißt das: Man hat nicht raffiniert genug gelogen.
Das rächt sich jetzt grausam. Die sozialen Kämpfe bekommen plötzlich wieder Biß, die Medien schäumen über. Die Montagsdemonstrationen hätten allerdings längst nicht so viel Präsenz, kämen ihnen die Medien nicht freudig entgegen. Daß der öffentlich-rechtliche Rundfunk beginnt, dabei eine zentrale subversive Rolle zu spielen, ist eine neue Qualität, die bisher Außenstehenden kaum aufgefallen ist und plötzlich vehement zutage tritt. Dieser rebellische Medien-Unmut dürfte in der deutschen Geschichte ein Novum sein.
Wer etwa die Tagesthemen vom Montag, dem 9. August, verfolgt hat, erlebte nicht nur eine stark emotionale Berichterstattung von den Montags-Demos mit Parteinahme für die Demonstranten, sondern auch eine höchst angriffslustige Anne Will, die im Gespräch mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt (CDU) die objektive Interviewtaktik verließ (und das passiert einem der besten Interviewtalente des Landes!) und aus ihrer Verachtung für den Gesprächspartner keinen Hehl machte. Als ob das nicht genügte: Der anschließende Kommentar des Westdeutschen Rundfunks gab sich erstaunlich revoluzzerisch und stellte den neuen alten Slogan »Wir sind das Volk!« als Schlachtruf auf ein pathetisches Podest – ungewöhnliche Töne vom Rhein.
Warum fraternisieren große Teile der öffentlich-rechtlichen, also staatlichen Medien mit den Demonstranten? Der Grund ist einfach: Bund und Länder haben ihre journalistische Elite genauso gedemütigt wie die Bevölkerung. Etwa sechzig bis siebzig Prozent der Arbeit an den Rundfunksendern wird von sogenannten freien Mitarbeitern bewältigt, Journalisten, die so rechtlos sind wie sonst kaum noch ein anderer Berufszweig in Deutschland.
Bindende Verträge gibt es für sie kaum oder gar nicht. Aufzubegehren bedeutet fast automatisch Einschränkung der Tätigkeit. Mitgliedschaft in der Gewerkschaft ver.di macht verdächtig. Abmachungen sind nur für eine Seite bindend. Monatlich bekomme ich zum Beispiel höchst kurzfristig einen Schrieb vom rbb mit der Fixierung mündlich vereinbarter Termine und folgender zynischen Passage: »Wenn Sie mit dem Einsatz einverstanden sind, bitten wir Sie, dies durch Ihre Unterschrift zu bestätigen. Eine Verpflichtung zur Beschäftigung entsteht dadurch für den rbb nicht.« Mit anderen Worten: Ich muß mich festlegen, der rbb kann jederzeit widerrufen. Und das tut er denn auch: Die einzige Kündigungsfrist des freien Mitarbeiters ist die relativ lange Vorausplanung der Sendungen. Das heißt, wenn er denn als Moderator oder redaktionell tätig ist, dann hat er Glück; als Beitragsautor ist er oft noch schlimmer dran. Zu klagen wagt kaum jemand – Leute, die rechtliche Schritte gegen ihre Rechtlosigkeit unternehmen, werden aus verschiedensten Gründen nicht wieder beschäftigt, zumindest nicht im verklagten Sender. Es gibt dann immer irgendwelche »Besetzungprobleme«. Alle sind froh, überhaupt etwas tun zu können; wer wird denn da aufbegehren. Der Unmut explodiert hinter den Bürotüren, in der Kantine, im Studio, wenn die Mikros und Kameras abgeschaltet sind.
Aber auch den festen B-Redakteuren geht es schlecht – ihre Bezüge und Tarife werden gekürzt, sie leisten oft eine enormes Pensum unbezahlter Überstunden. Sie müssen sich gegen den Druck der Leitung ebenso erwehren wie gegen den Neid der Freien, die nicht einmal primitivste Absicherungen in ihrem Berufsleben aufweisen können. Wer als Freier krank wird, hat Pech. Sein Honorar ist dann in der Regel futsch. Rührend sind hier oft die Mühen von Redakteuren der mittleren Ebene zu helfen: Man versucht interne Tauschgeschäfte, Frau B moderiert die Sendung des erkrankten Herrn C, dafür verzichtet Frau B auf eine Sendung, wenn Herr C wieder gesund ist. Man improvisiert verzweifelt, wo es keinen wirklichen Schutz durch Verträge mehr gibt. Und von Privilegien wie Urlaubsgeld, dreizehntes Monatsgehalt und so weiter können Freie nur träumen.
Viele Programmreformen, bei denen die Hörer die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, resultieren oft aus dem panischen Bemühen der Redakteure, so viele Freie wie möglich einzubinden, um sie nicht auf die Straße schicken zu müssen. Daß etwa im neuen Kulturprogramm des rbb die Musik alle fünfzehn Minuten von Beiträgen unterbrochen wird, daß relativ viele Moderatoren zu hören sind, ungewöhnlich viele Leute mit redaktionellen Kleinstprojekten beschäftigt werden, dürfte ein Resultat des heroischen Versuchs sein, alle Kräfte trotz der staatlich oktroyierten Sparzwänge wenigstens teilweise weiter zu beschäftigen. Ähnliche Überlegungen werden auch zur Gründung der digitalen Zusatz-Sender von ARD und ZDF geführt haben.
Und der Anteil der Freien wird immer größer: Wenn fest angestellte Redakteure in Pension gehen, rücken kaum noch neue nach, die Stellen werden entweder gestrichen oder mit Freien besetzt.
An echte Mitbestimmung der Freien im Rundfunk ist nicht zu denken. In einer stürmischen Massenversammlung im vorigen Sommer zeigten sich etwa drei Viertel der journalistischen Belegschaft von Radio Kultur und Radio3 enttäuscht vom neuen Konzept eines gemeinsamen Kulturradios für den rbb. Diese mehrheitliche Unzufriedenheit wurde von der Leitung ganz offensiv ignoriert. (»Sie können gern Details ändern, meine Damen und Herren, aber das Grundkonzept bleibt!«) Die Arbeitsgruppen zur Programmreform wurden demonstrativ durch feste Redakteure besetzt, Freie hatten keinen Zutritt. Selbst eine Unterschriftensammlung empörter fester Redakteure gegen das neue Programm ließ die Leitung unbeeindruckt.
Ähnliche Zustände wie beim rbb herrschen dem Vernehmen nach an den meisten öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehsendern Deutschlands. Das Ergebnis: Die Masse der Mitarbeiter, oft bis in höhere Ebenen hinauf, fühlt sich ebenso ungerecht behandelt, ebenso ausgebeutet wie die Leute, die jetzt in vielen Städten auf die Straße gehen. Man muß kein Prophet sein, um vorauszusehen, daß frustrierte Journalisten eine Explosivkraft besitzen, die sich demnächst äußerst katastrophal für Wirtschaftselite, etablierte Parteikader und Regierung auswirken kann.
Denn wenn der staatliche Journalismus den Staat bekämpft, ist das der Anfang vom Ende.