Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 16. August 2004, Heft 17

Das kleinere Übel

von Horst Jacob

Eines muß man jenen lassen, die den realkapitalistischen Alltag verwalten: In den Verhaltensmustern der Menschen kennen sie sich aus. Den Stockfehler ihrer dereinst sozialistischen Pendants, öffentliche Kritik am Gemeinwesen mit so ziemlich allen Mitteln zu unterbinden, begehen sie jedenfalls schon lange nicht mehr. Ganz im Gegenteil: Nur fröhlich drauflos, wer was zu nörgeln und zu klagen hat. Es kann gar nicht drastisch genug ausfallen. Die Medien stellen sich als Plattform willig zur Verfügung.
Die Bild-Zeitung bietet gar den Service eines Zentralorgans für Volkes Zorn und Willen. Ein jeder kann so seinen Frust ablassen. Dann hat er es »denen da oben« unheimlich gegeben. Daß nichts dabei herauskommt, nimmt er abwinkend hin; das hat er ja schon immer gewußt. Oder es macht ihn erneut zornig, und er schreibt es an die Zeitung oder spricht es unverblümt in Kameras – und alles beginnt von vorn …
Die selbstregelnde Manipulation heutiger Öffentlichkeit hat aber freilich noch subtilere Mechanismen zu bieten. Sie nimmt Unmut nicht nur großmütig hin, sie provoziert ihn sogar gern selbst. Vorzugsweise übernehmen das Manager aus der Wirtschaft. Oder Politiker, wie die Manager außerhalb der Wirtschaft heißen.
Das Verfahren ist so einfach wie funktionabel: Will man dem Volke – en toto oder partikulär – etwas Unerfreuliches überhelfen, gibt ein Herold aus Wirtschaft oder Politik, meist jemand aus der zweiten Reihe, den Bluthund. Unerschrocken offeriert er der Öffentlichkeit zum Beispiel, daß die Mehrwertsteuer auf 31 Prozent erhöht werden müsse – oder der Spritpreis auf 5 Euro. Oder, daß für jedes Kind künftig pro Schuljahr tausend Euro zu zahlen sind. Oder, daß Arzneimittel komplett aus der eigenen Tasche berappt werden müssen. Oder, daß man im Probehalbjahr eines Arbeitsverhältnisses gratis zu arbeiten habe. Oder … oder … oder. Und alles alternativlos, versteht sich.
Was darauf folgt, ist ein Sturm des Protestes, mit Bild an der Spitze. Ebenso massiv wie medial attraktiv aufbereitet, heult das Volk auf. Wenn’s ganz schlimm kommt, weist es darauf hin, daß es das Volk sei! Nach Umbruch gar beginnt es zu riechen, wenn die Gewerkschaften Trillerpfeifen ausgeben. Dann ist die Revolution, im Rahmen der tariflichen Abmachungen natürlich, schier mit Händen zu greifen.
Aber sie findet nicht statt. Denn just auf dem Höhepunkt der Audiorevolte erheben sich aus dem Epizentrum von Politik und/oder Wirtschaft nun die Stimmen aus der ersten Reihe. Die stehen ganz auf der Seite des Volkes und rügen ihre vorlauten Parteigänger ob deren unabgestimmt ausposaunter Einzelmeinung. Denn natürlich ginge es ja nicht um 31 Prozent Märchensteuer, sondern nur um 21. Auch nicht um 5 Euro für Sprit, sondern doch nur um 2,90 Euro. Und das jährliche Schulgeld dürfe selbstredend nicht mehr als 750 sozialverträgliche Euro pro kindlichem Näschen betragen. Arzneimittel würden nur jeden zweiten Monat komplett zu tragen sein, und zu Allerheiligen gleich gar nicht; in Bayern auch zu Fronleichnam nicht. Und unter 2,50 Euro pro Stunde im arbeitsrechtlichen Probehalbjahr wäre mit ihnen niemals etwas zu machen.
Das Volk atmet auf: No pasaran! – Die Bosse kommen nicht durch! Nicht bei uns! Jedenfalls nicht mit ihren ursprünglichen Forderungen. Die nunmehr vorliegenden sind das viel kleinere Übel, und damit müsse man halt leben. Auf diese illustre Weise geht Runde um Runde an die Marktwirtschaftspolitiker, seit das Ende der Wohlfahrt eingeläutet wurde: Das kleinere Übel ist gar nicht so übel; es hätte ja noch schlimmer kommen können. Der deutsche Bürger leckt seine Wunden, bis zur nächsten Grausamkeitsverkündung, die er dann protestual ebenso halbieren wird wie die vorherigen. Dessen ist er sicher, schon, weil er Bild an seiner Seite weiß – und die PDS, jedenfalls dort, wo sie mitregiert. Denn auf die Idee, »Schluß!« zu sagen, »Wir spielen dieses Scheißspiel nicht mit«, kommt man dort nicht mal bei Hartz IV – Chapeau.
Verehrte deutsche SPD/CDU/FDP/PDS-Wähler, Gewerkschafter, Zeitungsleser und Steuerbürger: »Merkt Ihr nischt?« (Tucholsky, 1922)