Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 5. Juli 2004, Heft 14

Wohin mit dem Öl?

von M. R. Richter, Kiew

Zwar verfügt die Ukraine nur über verschwindend geringe eigene Erdölreserven, doch dafür wuchert sie mit dem Pfund der neuerrichteten Pipeline vom Ölterminal in Odessa bis nach Brodi an der polnischen Grenze. Diese hat Anschluß an die Leitung aus Rußland nach Westeuropa. Konzipiert wurde diese Rohrleitung noch zu sowjetischen Zeiten, um den Export des schwarzen Goldes auf den Balkan und in den Mittelmeerraum zu erhöhen, doch fertiggestellt wurde sie erst in den vergangenen Monaten. Und nun steht die Ukraine wieder einmal vor einem für sie typischen Problem: Welches Erdöl soll wohin transportiert werden?
Zwei Möglichkeiten werden seit Jahren diskutiert: Soll nun kasachisches und Kaspiöl über Odessa nach dem Norden fließen? Eine Leitung von Brodi ins polnische Verarbeitungszentrum Plock ist in Planung, eine Leitung von Plock nach Gdansk besteht seit einigen Jahren. Damit würde eine Umgehung um Rußland bis hinauf nach Skandinavien eröffnet werden. Polen zeigt sich stark interessiert, und Polens eigentliche Schutzmacht Washington unterstützt dieses Projekt mit allen Mitteln. Auch Kasachstan und Aserbeidschan bekundeten Interesse. Neun Millionen Tonnen Erdöl könnten so pro Jahr befördert werden. Kasachstan würde sechs Millionen Tonnen jährlich bereitstellen. In ukrainischen Medien zitierte Analytiker rechnen mit einem Preis von 60 bis 70 Dollar pro Barrel bereits in naher Zukunft, das eine Verdoppelung bis Verdreifachung des Preises der vergangenen vier Jahre bedeuten würde.
Die zweite Variante: russisches Erdöl nach Odessa zu transportieren und von dort, wie früher einmal geplant, auf den Balkan und nach Südeuropa. Hieran ist wiederum verständlicherweise Rußland interessiert und eigentlich auch die Europäische Union, welche für den Südraum nach Alternativen sucht und eine Konkurrenz für das Nordseeöl nicht allzugern sehen würde. Natürlich sind sowohl Aserbeidschan als auch Kasachstan an einer Diversifizierung ihrer Transportrouten interessiert. Gegenwärtig verfügen sie über eine jährliche Durchsatzleistung über bestehende Pipelines von etwa hundert Millionen Tonnen. Ob sie es sich nun wegen zusätzlicher neun Millionen Tonnen mit Moskau verscherzen wollen, bleibt dahingestellt.
Der eigentliche Konflikt spielt sich zwischen den russischen und den polnischen Interessen ab. Fließt das Öl nach Brodi und weiter nach Plock, dann hätte Polen plötzlich drei Hauptquellen: einerseits das Gdansker Ölterminal, wo eigentlich saudisches Öl nach Plock transportiert werden sollte, um das russische Öl zu ersetzen, zweitens das Öl, welches aus dem kaspischen Raum über die Türkei, Batumi, Odessa nach Brodi und Plock strömt, und drittens wie bisher auch die alte Pipeline Drushba aus Rußland. Polen wüchse zur Macht am Ölhahn in Europa – und im Hintergrund würden die USA die Fäden ziehen.
Übrigens wird jetzt wegen der Sicherheitslage in Nahost russisches Öl in Gdansk angelandet und in Plock verarbeitet, um den europäischen Hunger nach Petrolprodukten zu stillen und gut daran zu verdienen, Kiew steht also vor dem alten und immer wieder neuen Problem, mit wem es sich es nicht verderben will. Daß die USA auf die Südroute Türkei-Batumi-Odessa-Brodi setzen, wurde spätestens mit Bushs Coup um den Tiblissier Rosenkavalier in Adscharien klar. Doch auch Rußland weiß seine Interessen in Kiew zu wahren. So kam es, wie es kommen mußte: zum großen Streit. Im Februar entschied das ukrainische Kabinett zugunsten der Leitung Odessa-Brodi. Die ostukrainischen Lobbyisten im Parlament liefen Sturm. Im März und April bereitete die Regierung die Verträge mit Kasachstan und Aserbeidschan vor. Dann plötzlich die Kehrtwende im Mai. Nun heißt es: Brodi-Odessa. Die Internationale Energieagentur und die Europäische Kommission begrüßten diesen Schritt. Interessanterweise erfolgte diese Wende in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zum Krimtreffen Kutschmas und Putins.
Allerdings bleibt zweifelhaft, ob damit das letzte Wort bereits gesprochen ist. Wie angedeutet, steht das gesamte Projekt im Zusammenhang mit Bestrebungen der USA und der NATO, einen Südkorridor über den Balkan, die Ukraine, die Kaukasusstaaten bis hin nach dem nördlichen mittleren Osten und nach Mittelasien zu schlagen. Damit könnte man einerseits den Druck auf den Iran und auf Afghanistan verstärken, andererseits eine neue Achse für den lebenswichtigen Öltransport schmieden und, nicht unwichtig, Rußland an seiner Südflanke beunruhigen.
Doch dazu muß erst einmal Kiew von Moskau abgekoppelt werden. Deshalb verstärkt sich das Propagandafeuer in Vorbereitung der Präsidentenwahlen im November. Noch geben die Meinungsumfragen kein klares Bild: Der liberale Westukrainer Justschenko und der industrienahe Ostukrainer Janukovitsch, der gegenwärtige Premier, stehen in der Wählergunst nahezu gleichauf. Justschenko steht erfahrungsgemäß für die Westausrichtung, Janukovitsch mehr für die Wirtschaftsbeziehungen zu Rußland. Die Stimmenverteilung verspricht spannend zu werden. Es ist zu erwarten, daß der Abstand zwischen den Spitzenkandidaten sehr gering ausfallen wird. Das gibt ausreichend Grund, wieder einmal gegen »Wahlbetrug« zu demonstrieren. Greift im November das Belgrader und Tiblissier Beispiel auf Kiew über?