Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 21. Juni 2004, Heft 13

Rübergekommen

von Paul Oswald

Kurz vor ultimo liefen die Wahlkampf-Stäbe jener Parteien und Parteichen, die gedachten, Vertreter im EU-Parlament zu plazieren oder wenigstens einigermaßen nennenswerte Wahlkampfkosten-Rückerstattungen herauszuholen, noch einmal zur Höchstform ñ oder was sie dafür hielten – auf. Nun ist ausgezählt, manche sind »drin« und andere nicht; und die TV-Erklärungen der Parteien-Vertreter für Erfolg oder Mißerfolg waren so, wie sie immer sind, und die Zuschauer (ja, doch, es gibt immer noch welche!) hätten sie sich eigentlich auch selber aufsagen können. Der unerträglichste Satz derartiger Sendungen an Wahlabenden ist inzwischen jener, mit dem reihum den Wählern gedankt wird.
Zugegeben: Es nähme sich natürlich merkwürdig aus, wenn an so einem Wahlabend die Parteien auch jenen dankten, die der Wahl ferngeblieben sind. Nicht, daß es sich bei denen um eine unbedeutende Minderheit handeln würde – 60 Prozent -; aber es herrscht momentan noch allgemeine Unklarheit darüber, wofür Nichtwählern gedankt werden könnte. Denn daß sie durch ihre Abstinenz die »etablierten Parteien« aufschrecken und diese gar veranlassen könnten, in sich zu gehen, sich und ihr Tun oder Unterlassen in Frage zu stellen, darf sehr bezweifelt werden.
Die nach Wahlen üblichen »Manöverkritiken« gingen – auch wie immer – nicht ans Eingemachte. In der Öffentlichkeit schon gar nicht, und intern wurde allenfalls über Strategie und Taktik befunden, es wurde über Wahlplakate, Fernsehspots und -auftritte debattiert und darüber, daß bei den Bürgern wieder mal etwas nicht oder etwas – im Erfolgsfalle – eben gut »rübergekommen« sei. Die Bürger haben verstanden, oder sie haben eben nicht verstanden. Der Gedanke, daß viele sehr wohl »verstanden« haben und gerade darum diese oder jene Partei nicht wählten oder ins Lager der Nichtwähler wechselten, ist allen Parteien fremd.
Also wurde auch diesmal »hinterher« vor allem nur über die Arbeit der beauftragt gewesenen Werbeagenturen und über die »Berater« geredet. Und für die Konsequenzen, die Parteien auch nach dieser Europa-Wahl zu ziehen hätten, gibt es dann wieder nur zwei Richtungen: Wir bleiben bei der Agentur oder Wir suchen uns eine neue. Das nun muß ja nicht von vornherein falsch sein. Wenn ein derartiges Vorgehen unter anderem dazu führte, daß beispielsweise die PDS bei einer künftigen Wahl wieder zu Wahlplakaten findet, die dem eigentlich modernen corporate identity dieser Partei entsprechen und sich von der tuntigen Frische-Heringe-eingetroffen-Schreibschrift der diesjährigen Wahlkampf-Plakate wieder verabschiedet, wäre ja auch schon etwas erreicht. Jedenfalls für die Stadtästhetik. Doch Politikersatz ist das natürlich alles nicht.
Aber brauchen wir überhaupt noch Politik und Leute, die sie betreiben? Diese Frage muß angesichts des Privatisierungsdruckes erlaubt sein. Just vier Tage vor der Europa-Wahl wurde bei der Vorstellung der Studie Deutschland 2020 mitgeteilt, die Deutschen würden sich »vom Wohlstandsstaat verabschieden« (wer »verabschiedet« sich da eigentlich von wem?) und es nehme bei jungen Menschen die »Bereitschaft zu, das Leben in die eigene Hand zu nehmen«. Als wenn die bisherigen Generationen nicht ihr Leben in die eigenen Hände genommen hätten. Gerade weil sie das taten, erkämpften sie den Sozialstaat – der nun mit dieser Art dreckiger Demagogie wieder beseitigt werden soll.
Wie auch immer: Wenn die gesellschaftserhaltenden Aufgaben des Staates nicht mehr gelten sollen, dann stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem Sinn von Republik und Wahlen neu. Und wenn wir dann eines Tages nur noch den Repressivstaat haben werden und die Chefs der Unternehmerverbände und Großbanken auch offiziell das tun werden, was sie derzeit schon ständig versuchen: nämlich das Land regieren, dann könnte zum Beispiel Tagesthemen-Moderator Uli Wickert zu einer Art republikanischem Seelmann-Eggebert mutieren. So wie Seelmann-Eggebert seine öffentlich-rechtlichen Brötchen mit kompetenten Fernsehreportagen aus verflossener Adelswelt verdient, könnte Wickert sogenannte Republik-Reportagen produzieren. Noch ist es nicht soweit. Und darum werden wir vorerst weiterhin wählen gehen. Oder nicht.