Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 21. Juni 2004, Heft 13

Liberty

von Tilo Gräser

Im Juni vor 37 Jahren fehlten nur wenige Minuten bis zum Beginn eines Atomkrieges. Zwei A4-Jagdbomber starteten vom US-Flugzeugträger America mit Ziel Kairo, unter ihrem Rumpf Atombomben. Es sollte ein Vergeltungsschlag gegen Ägypten werden. Den Anlaß gab ein Angriff auf das US-Spionageschiff Liberty in den internationalen Gewässern vor der Küste der Halbinsel Sinai. Doch das Schiff war nicht von Ägypten, sondern von israelischen Mirage-Jagdbombern und Torpedobooten angegriffen worden. Kurz bevor sie ihr Ziel erreichten, wurden die Atombomber gestoppt und zum Flugzeugträger zurückbeordert. Kairo blieb verschont, und der Sechstagekrieg wurde eine militärische Auseinandersetzung zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn.
Das ist Teil der Vorgänge um den offiziell als Irrtum bezeichneten Angriff auf das Spionageschiff Liberty. Für Israel handelt es sich um eine »tragische Verwechslung«. Der damalige Chef des israelischen Militärgeheimdienstes, Shlomo Gazit, spricht in dem BBC-Dokumentarfilm Death in the Water von Christopher Mitchell von einem »dummen Fehler«. Das wird unter anderem mit der angeblichen Verwechslung mit einem deutlich kleineren ägyptischen Frachter begründet. Für die Überlebenden der Liberty wie Lloyd Painter war es »kaltblütiger Mord« und der »bestgeplante Unfall« in der Marinegeschichte. Sie verweisen darauf, daß ihr Schiff deutlich mit einer Flagge der USA gekennzeichnet war.
34 Seeleute des US-Schiffes kamen ums Leben, 171 wurden verwundet. Die elektronische Ausrüstung des damals modernsten Spionage-schiffes wurde zerstört. Die Liberty ging trotz der mehr als eine Stunde dauernden Angriffe nicht unter. Hilfe von der nahen 6. US-Flotte kam erst Stunden später, niemand unternahm etwas gegen die Angriffe. Das Schiff konnte später schwer beschädigt nach Malta gebracht werden. Notdürftig geflickt, kam es im Juli des Jahres zurück in die USA, wo die Überlebenden in alle Himmelsrichtungen verteilt wurde. Keiner kam mit einem ehemaligen Kameraden zusammen. Ihnen wurde mit dem Kriegsgericht gedroht, falls sie irgendjemandem etwas erzählten, was sie erlebt hatten. Seit Jahrzehnten kämpfen sie um die historische Wahrheit und darum, daß offiziell anerkannt wird, daß es sich um einen absichtlichen Angriff handelte (siehe www.ussliberty.org). Sie werden als Antisemiten diffamiert, ihre Zweifel an den offiziellen Erklärungen als »Verschwörungstheorien« abgetan.
Auf israelischer Seite leugnen Verantwortliche wie der damalige Mossad-Chef Rafi Eitan die Absicht eines Angriffs und verweigern mit Hinweis auf ihre Loyalität gegenüber Israel Auskünfte über die Hintergründe. In den USA sprechen zumindest Jahrzehnte später einige wie der damalige US-Vizeaußenminister Lucius Battle davon, daß das Schiff absichtlich angegriffen wurde. Das bezeichnet der ehemalige CIA-Chef Richard Helms in dem BBC-Film als »Fakt« und als »unentschuldbar«. Selbst der damalige US-Präsident Lyndon B. Johnson soll das laut Battle so gesehen haben. Doch offiziell vertuschten die USA gemeinsam mit Israel die Wahrheit und die Hintergründe des Angriffs auf die Liberty.
Anfang dieses Jahres beschäftigte sich eine Konferenz in Washington mit inzwischen freigegeben Dokumenten zu dem Vorfall. Dabei wurden zumindest die offiziellen Vertuschungen deutlich gemacht. Der Journalist James Bamford zitierte die eidesstattliche Erklärung von Ward Boston, der Mitglied des militärischen Untersuchungsausschusses zur Liberty gewesen war. In der Erklärung vom Oktober 2003 heißt es, daß der damalige US-Präsident Lyndon B. Johnson und sein Verteidigungsminister Robert McNamara den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses »die Schlußfolgerung« befohlen hätten, daß es sich bei dem Angriff auf die Liberty »um einen Fall ›falscher Identität‹« gehandelt habe; »trotz überwältigender Beweise des Gegenteils«. Bamford vermutet in seinem Buch über die National Security Agency (NSA), dem »mächtigsten Geheimdienst der Welt«, daß die Liberty versenkt werden sollte, weil sie abhörte, was in Al Arish geschah. Dort massakrierten während des Sechstagekrieges im Juni 1967 israelische Truppen unter Befehl von Ariel Sharon mehr als tausend ägyptische Kriegsgefangene.
Doch der BBC-Dokumentarfilm und ein Buch des britischen Journalisten Peter Hounam, Operation Cyanide (2003), sowie die Überlebenden verweisen auf Belege für eine Verschwörung zwischen den US-amerikanischen und israelischen Geheimdiensten. Deren Ziel könnte es gewesen sein, durch das angeblich von Ägypten versenkte Schiff die USA auf seiten Israels in den Sechstagekrieg hineinzuziehen. Ägypten wurde damals von der Sowjetunion unterstützt, die etwa zwanzig Kriegsschiffe im Mittelmeer stationiert hatte. Es habe einen Plan Operation Cyanide gegeben, heißt es sowohl im Film als auch im Buch, mit dem Ziel, Ägypten zu überfallen und dessen Präsident Abdel Nasser zu stürzen.
Darauf deuten auch die gestarteten A4-Atombomber mit Ziel Kairo hin. James Ennes, einer der Liberty-Überlebenden, berichtet im Film von einem Dokument vom April 1967, in dem dieser Plan erwähnt wird. Es stammt von einer Sitzung des Committee 303, eines Gremiums der US-Regierung, das verdeckte Aktionen der USA plante und im Namen des US-Präsidenten entschied. Das geschah, damit der Präsident bei einem Scheitern nicht belastet werden kann, erklärt Ex-CIA-Chef Helms in dem BBC-Film. Die Spur dieses 1952 gegründeten und mehrfach umbenannten Gremiums aus Vertretern von Außen- und Kriegsministerium sowie der CIA führt nach Vietnam, Chile, Indonesien und in andere Gegenden der Welt.
In die Vorgänge seien auch U-Boote der USA verwickelt gewesen, die sich im Juni 1967 im Mittelmeer aufhielten, berichten Film und Buch. Liberty-Mann Ennes weiß von einem U-Boot, das direkt bei dem Schiff war, als es angegriffen wurde. In dem Geheimdokument wird ein Submarine in den ägyptischen Gewässern erwähnt. Ein anderer Überlebender, David Lewis, berichtet von Geheimbefehlen im Liberty-Safe für U-Boot-Operationen, die aber infolge des Angriffs nie geöffnet wurden. Der Film erwähnt auch US-Aufklärungsflugzeuge, die vor dem Krieg nach Israel verlegt und samt Piloten im Sechstagekrieg zum Einsatz kamen. Was Ex-Geheimdienstler Gazit als »Hirngespinst« bezeichnet, wird von einem der damaligen Piloten, Greg Reight, vor laufender Kamera bestätigt.
Nach Jahrzehnten werden Stück für Stück Indizien bekannt, die einen Einblick in die Mechanismen hinter der offiziellen Politik gestatten. Das, was bisher von den Hintergründen des Vorfalls aufgedeckt wurde, wirft ein Licht auf die Beziehungen zwischen den USA und Israel: Der Krieg im Juni 1967 gilt als Wendepunkt der Beziehungen zwischen den beiden Staaten. Seitdem zählt die Sicherheit Israels zu den strategischen Interessen der US-Politik.
Die Überlebenden kämpfen weiter gegen die offiziellen Lügen und Vertuschungen. Liberty-Kapitän William McConagle erzählte vor seinem Tod 1999 seinem Freund George Golden, Leitender Offizier des Schiffes: »Wir sind reingelegt worden.« Für ihn war klar, daß sein Schiff untergehen und die Schuld dafür Ägypten und der Sowjetunion in die Schuld geschoben werden sollte. Denn wäre die Liberty durch die gezielten Torpedo-Treffer auf ihren Hauptkessel gesunken, hätte es keine überlebenden Zeugen für den israelischen Angriff gegeben.