Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 6. Juni 2004, Heft 12

Freiheit zum Bösen

von Frank Hanisch

Im Gebäude der Psychologischen Sektion auf dem Campus der Stanford Universität in Kalifornien ereignete sich 1971 Unerhörtes: Im Rahmen einer Studie wurden 24 Studenten gesucht, die nach dem Zufallsprinzip eine Rolle als Gefängniswärter oder Sträfling zugeteilt bekamen, die sie vierzehn Tage lang spielen sollten. Schon nach wenigen Tagen ließen die »Wächter« die »Gefangenen« ihre Macht spüren und gaben mehr und mehr sadistischen Neigungen freien Lauf: Sie verhüllten den Kopf der »Gefangenen« mit Tüten, zwangen sie, sich nackt auszuziehen und weitere »Mitgefangene« sexuell zu demütigen … Die Studie mußte noch vor Ablauf der ersten Woche abgebrochen werden. Dieses Experiment ging als das »Stanford Prison Experiment« in die Geschichte ein.
Gewöhnliche Menschen können in bestimmten Situationen fürchterliche Dinge tun – die Freiheit, die der Mensch besitzt, kann auch eine Freiheit zum Bösen sein. Die äußeren Parallelen des Experimentes zu den aktuellen Vorgängen im Irak sind frappierend. Trotzdem klingt es nach peinlicher Rechtfertigung, wenn John Schwartz von der New York Times dieses Experiment mit den Worten zitiert: »US-amerikanische Tests sagten das Verhalten der Gefängniswärter voraus«. Jeder Mensch hat die Wahl, Gefängniswärter, Militärpolizist oder Berufssoldat zu werden. Nicht jeder ist dafür geeignet, nicht jeder ist dieser Aufgabe gewachsen.
Der Blick auf das Individuum, eine Psychologisierung der Tat kann den ebenso notwendigen Blick auf den Täter als Teil einer sozialen Gemeinschaft (zum Beispiel der Armee) verstellen. Die Armeen sind dem Blick des Bürgers entzogen, weil sie (in der Regel) im Ausland agieren, die Gefängniswärter, weil sie die Funktion haben, die Straftäter von der Gemeinschaft fernzuhalten. Unterordnung unter eine straffe Hierarchie und Bezwingung des Individuums sind in beiden Institutionen zentrale Punkte. Damit bilden sie subdemokratische und autoritäre Strukturen in einer Gesellschaft, die das Ziel hat, offen und demokratisch zu sein. Die Stärke der demokratischen Zivilgesellschaft besteht darin, Mechanismen zur Verfügung zu haben, die nicht tolerierbare Entgleisungen in diesen Institutionen erkennt und korrigiert.
In Umfragen der Institute Forsa und Infratest Dimap befürworteten im Februar 2003 51 bis 63 Prozent der befragten Deutschen den Einsatz von Folter durch den Frankfurter Polizeipräsidenten Daschner gegen den Entführer des Jungen Jakob von Metzler, um Jakobs Aufenthaltsort zu erfahren. Anatoli Pristawkin, Schriftsteller und Vorsitzender der Begnadigungskommission unter Präsident Jelzin fiel in den Debatten über die Todesstrafe in Rußland folgendes auf: »Die Gegner der Todesstrafe appellieren an den Verstand (Zitate, Berufung auf Autoritäten, Vernunftsargumente, Zahlen), die Befürworter hingegen an menschliche Gefühle, an Instinkte.«
»Würden Sie den Einsatz von Folter rechtfertigen, wenn damit ein potentieller Terroranschlag verhindert würde, bei dem unbeteiligte Menschen (Ihre Eltern, Ihre Kinder …) gefährdet wären?« Mit diesem Argument wird jede Folter legitimiert. Fatalerweise nähern sich Diktaturen und demokratische Regierungen mit dieser Begründung in diesem Punkt einander an. Einfallstor für eine Lockerung des absoluten Folterverbots ist nicht der Fall Daschner, sondern die Rhetorik um den Kampf gegen den Terror: Es geht um den Einsatz der Folter gegen Rebellen, Terroristen, kurz gesagt: politische Gegner. »Wie können Demokratien zu solchen Mitteln (Zwang, Gewalt, Irreführung, Verletzung von Rechten) greifen, ohne die Werte zu zerstören, für die sie stehen?« fragte kürzlich der kanadische Publizist und Leiter eines Menschenrechtsinstitutes in Harvard, Michael Ignatieff, im Magazin der New York Times.
Die Psychologin Angelika Birck sieht die Folgen staatlicher Gewalt am Menschen täglich im Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin. Sie meint: »Ich, als Person Angelika Birck bin geschützt, wenn Personen, auch Terroristen, auch Entführer, nicht gefoltert werden dürfen. Ein Mensch kann in eine Lage geraten, in der außer eigener Gewalt keine andere Handlungsoption mehr übrig bleibt. Staaten besitzen das Gewaltmonopol, ihre Vertreter verfügen immer über rechtsstaatliche Handlungsalternativen. Woher will ich wissen, ob es wahr ist, was unter Folter erpreßt wurde? Ein Mensch sagt unter Folter alles, um diese zu beenden – auch Unwahrheiten. Ein Staat, der Folter zuläßt, ist kein Rechtsstaat mehr.«
Mittlerweile wird in den europäischen Staaten, auch im deutschen Innenministerium, ganz offen über eine Lockerung des Folterverbots und über einen beschränkten Einsatz von Folter nachgedacht. Halten wir uns vor Augen: Nur zwei Generationen nach den Schrecken und Brutalitäten des Zweiten Weltkriegs, nur eine Generation nach dem Algerienkrieg, nur wenige Jahre nach dem Ende des Jugoslawienkrieges wird offensichtlich das Verbot der Folter, wie es im Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in der UN-Antifolterkonvention verankert ist, die alle europäischen Staaten unterschrieben haben, nicht mehr als unbedingt zu bewahrender Wert anerkannt.
Das Milgram-Experiment ist ein weiterer Klassiker der experimentellen Psychologie: Stanley Milgram wollte 1963 mit Bürgern von New Haven in den USA die Rolle der Strafe auf das Lernen untersuchen. So die offizielle Version. Die Versuchsperson übernahm die Rolle des »Lehrers«, der Schüler blieb unsichtbar hinter einer Wand. Für falsche Antworten sollte der »Lehrer« den Schüler mit einem Elektroschock betrafen, mit zunehmend höherer Spannung. Ab einer bestimmten Spannung hörte der »Lehrer« Schmerzschreie, die immer kläglicher wurden. Überkamen den »Lehrer« Zweifel, wurde er von Milgram mit auffordernden Gesten und standardisierten Sätzen wie »Sie müssen unbedingt weitermachen« ermutigt. Was die »Lehrer« nicht wußten: Es wurden keine Stromstöße verabreicht, und die Schreie kamen vom Band. Unter diesen Bedingungen verabreichten trotz der Schreie über 60 Prozent der »Lehrer« den potentiell tödlichen Schock von 450 Volt! Milgrams Experiment zeigte, daß die meisten Menschen schon von einer schwachen Autorität dazu gebracht werden können, anderen Gewalt anzutun.
Auch deshalb benötigt eine demokratische Gesellschaft ein absolutes Folterverbot.