Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 6. Juni 2004, Heft 12

Foltern wie im Irak

von Klaus Hart, Rio de Janeiro

Die Folterfotos aus dem Irak zeigen uns unglücklicherweise überhaupt nichts Neues, das kennen wir alles«, sagt Isabel Peres, Leiterin der brasilianischen Sektion von ACAT – Christen für die Abschaffung der Folter – in São Paulo gegenüber dem Blättchen. »Wegen des Irak-Kriegs finden die Aufnahmen jetzt besondere Aufmerksamkeit, doch in Brasilien geschieht all das in Gefängnissen und Polizeiwachen ganz systematisch! Die Lage hier ist sehr bedrückend. Gerade starb wieder ein Häftling an seinen Verletzungen – ACAT hat deshalb weltweit einen Appell verbreitet«.
Die Internationale Föderation ACAT hat ihren Sitz in Paris und ist in 31 Ländern sowie bei der UNO vertreten. Isabel Peres und ihre Mitarbeiter bekommen auch unter der Lula-Regierung alleine aus dem relativ hochentwickelten Teilstaat São Paulo täglich Folteranzeigen aus den über vierzig Gefängnissen. Vom Ex-Arbeiterführer, der das Leben im Präsidentenpalast in vollen Zügen genießt, sind sie wie alle Menschenrechtsaktivisten Brasiliens heftig enttäuscht. Landesweit sind die Haftanstalten noch mehr überfüllt als vor Lulas Amtsantritt. »Oft müssen sich die Gefangenen halbnackt ausziehen und Spießruten laufen. Die Militärpolizisten prügeln auf sie ein, immer wieder gibt es Tote. Bereits auf dem Transport werden Häftlinge zur Einschüchterung gequält, kommen stark verletzt in der Anstalt an.«
Eigentlich müßte sie ein Arzt laut Gesetz bei der Ankunft untersuchen – doch meist wird das einfach unterlassen. »Wenn wir von Folterungen erfahren, gehen wir mit einem Mediziner, einem Psychologen und einem Anwalt sofort in das betreffende Gefängnis, protokollieren den Fall, schicken den Bericht auch an die entsprechenden Autoritäten im Ausland. Doch zwei Monate später stellen wir oft fest, daß die mißhandelten Häftlinge weiter mit gebrochenen Armen, gebrochenen Beinen in ihren Zellen liegen, nicht richtig medizinisch behandelt wurden. Ein Nationalplan der Regierung gegen Folter steht doch nur auf dem Papier. Wir appellieren deshalb an die Menschenrechtler im Ausland, uns zu helfen.«
Auch der österreichische Pfarrer und Gefangenenseelsorger Günther Zgubic gehört zur ACAT Brasilien, er prangert seit Jahren die hier üblichen Foltermethoden an und vergleicht Gefängnisse mit Konzentrationslagern: »Häftlinge erhalten Elektroschocks, werden mit dem Kopf unter Wasser oder gar ins Klosett gehalten, müssen Fäkalien essen – man treibt ihnen Nadeln unter die Finger- und Fußnägel, drückt glühende Zigaretten sogar auf die Intimteile – hinzu kommt sexueller Mißbrauch.«
Pfarrer Zgubic zeigte hunderte Folterfälle, aber auch Gefängnisdirektoren und sadistische Beamte, an, machte sich dadurch viele Feinde. Für die UNO erarbeitete er immer wieder Dossiers. »Brasilien hat formell fast alle UNO-Abkommen zum Schutze der Menschenrechte unterzeichnet, besitzt sogar ein Anti-Folter-Gesetz – doch immer noch gibt es die Torturen.«
Auch Omar Klich, Leiter der Nationalen Bewegung für Menschenrechte (MNDH) in Brasilia, nennt die Lage landesweit gravierend. Gefoltert werde nicht am meisten in den großen Städten, sondern im stark unterentwickelten Hinterland. Und dort fehlten Expertenteams wie von ACAT – die dort allerdings auch gar nicht in die Gefängnisse gelassen würden. »Die Regierung reagiert nur manchmal und punktuell, obwohl Folter nicht nur in Rio de Janeiro, sondern landesweit zur Routine geworden ist, überall im Sicherheitsapparat«, so der deutschstämmige Klich zum Blättchen. »Folter ist eine systematische Praxis, eine Ermittlungsmethode der brasilianischen Polizei. Das hat hier vor vier Jahren schon der UNO-Sonderberichterstatter Nigel Rodley festgestellt.«
Die Struktur der Justiz, der öffentlichen Sicherheit Brasiliens sei aus der 21jährigen Diktaturzeit unverändert in die Demokratie übernommen worden. »Die gleiche Militär- und Zivilpolizei, die damals folterte und politische Gegner verfolgte, haben wir auch heute noch. Natürlich werden Reiche, Bessergestellte nie gefoltert – bevorzugt dagegen Menschen aus der Unterschicht, also Schwarze, Arme aus den Slums. Ungezählte Folteropfer machen aus Angst vor Rache keine Anzeige. Und oft passiert folgendes: Von oben wird jener Polizeichef, der angezeigt wurde, damit beauftragt, den Fall höchstpersönlich aufzuklären. Da ermittelt sozusagen der Täter gegen sich selbst – und meistens wird die Sache dann ergebnislos eingestellt.«
Nicht selten werden völlig Unschuldige so lange gequält, bis sie irgendwelche Verbrechen auf sich nehmen, mit denen sie überhaupt nichts zu tun haben. Und immer wieder überleben Gefangene die Torturen nicht. Linke Parteien und Gruppierungen beklagen, daß es weiterhin auch politische Häftlinge gebe. Dennoch sind selbst in der relativ hochentwikkelten Wirtschaftsmetropole São Paulo – drittgrößte Stadt der Welt mit über tausend deutschen Unternehmen – immerhin 24 Prozent der Einwohner – in manchen Vierteln sogar 31 Prozent – dafür, daß die Polizei, wenn nötig, foltern sollte, damit Tatverdächtige gestehen. Die Mehrheit der Befürworter sind gemäß einer neuen Studie überraschend Frauen zwischen 16 und 25 Jahren, mit Grund- und Mittelschulbildung.
Und von jenen, die Folter ablehnen – in der Altersgruppe über 41, mit Hochschulausbildung, mittlerem bis höherem Einkommen – sind immerhin 55 Prozent für die Todesstrafe. Klich sieht dafür mehrere Gründe, nimmt kein Blatt vor den Mund: »Gewalt ist in unserem Land ein kulturelles Problem, war seit der Gründung unserer Nation immer präsent. Der Brasilianer reagiert auf Gewalt gewöhnlich wieder mit Gewalt – dies ist in Ländern wie Großbritannien ganz anders, deshalb ist dort die Verbrechensrate so niedrig. Folter ist in Brasilien kulturell legitimiert, gilt in der öffentlichen Meinung als gerechtfertigt, um Verbrechen aufzuklären. Zu unserer Kultur gehört die Idee, daß man so für Gerechtigkeit sorgt, zumal die Justiz sehr langsam arbeitet. Frauen sind besonders oft Gewaltopfer – und meinen daher wohl, Folter sei die richtige Antwort.«
Klich weist auch auf den gesellschaftlichen Hintergrund – die Ängste der Stadtbewohner angesichts stark gestiegener Kriminalität. Wegen der Rekordarbeitslosigkeit unter Lula rutschen derzeit mangels Alternativen immer mehr Brasilianer ins Verbrechen ab. Gerade hat die UNO konstatiert, daß in Brasilien jährlich mehr Menschen getötet werden als im Irak-Krieg – über 45 000 Personen, mehr als in jedem anderen Land der Erde. Doch nur etwa fünf Prozent der Morde werden aufgeklärt. Interessant, daß Deutschlands Mainstream-Medien von all dem keine Notiz nehmen wollen und nur auf den Irak schauen.