Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 24. Mai 2004, Heft 11

Europhorie

von Ronald Lötzsch

Das euphorische Gelaber um die EU-Erweiterung treibt seltsame Blüten. Die Kanzlererklärung am 30. April im Bundestag und die anschließende Debatte konnte man dank Phoenix live erleben. Angela Merkel legte dabei Wert darauf, nicht einfach von Vereinigung, sondern unbedingt von Wiedervereinigung Europas zu sprechen. Herr Westerwelle betonte, es gehe nicht nur um die Wiedervereinigung der Staaten Europas, sondern insbesondere auch um die Wiedervereinigung seiner Völker. Eine Begründung dieser merkwürdigen Thesen blieben sie den Zuhörern schuldig. Von den Printmedien wurden sie, soweit ich das verfolgen konnte, völlig ignoriert.
Nun fragt man sich: Wann gab es denn einmal ein vereinigtes Europa, das sich nun endlich wiedervereinigen durfte?
Schon die wenigen Jäger und Sammler, die den Westausläufer des eurasischen Kontinents nach der letzten Eiszeit – bis heute zumindest noch – dauerhaft besiedelten, bildeten keine Einheit. Die Versuche, hier zu leben, die verschiedene Arten der Gattung Homo – Homo erectus, Neandertaler, frühere Gruppen des Homo sapiens – in den Zwischeneiszeiten des mehrere hunderttausend Jahre umfassenden Eiszeitalters unternommenen hatten, waren nach neuesten Forschungen nicht von Bestand. Die Wiederbesiedlung erfolgte in langsamen Schüben, in dem Maße, wie die Gletscher vor etwa 15000 Jahren zurückzuweichen begannen. Die ersten Europäer waren wohl vor allem Rentierjäger in einer Tundralandschaft. Existieren konnten sie nur in kleinen Gruppen. Woher die einzelnen Stämme kamen, in welchen Sprachen sie sich verständigten, wird sich mit Sicherheit nie feststellen lassen. Daß es unterschiedliche Sprachen gewesen sein müssen, steht jedoch fest. Denn die Ursprünge der später erkennbar werdenden europäischen Sprachenvielfalt liegen vor der letzten Eiszeit. Größere Konflikte um das jeweilige Stammesgebiet dürften die Alteuropäer solange vermieden haben, wie sie sich aus dem Wege gehen konnten.
Inwiefern der in Europa vor etwa 8000 Jahren einsetzende Übergang zur produzierenden Wirtschaft, zu Ackerbau und Viehzucht, von der Einwanderung weiterer Bevölkerungsgruppen begleitet war, ist im einzelnen umstritten. Unbestritten ist, daß diese sogenannte neolithische Revolution die Voraussetzungen schuf für die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft durch andere Menschen. Sie wurden umgehend genutzt. Im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung entstanden im Mittelmeerraum die ersten Sklavenhalterstaaten Europas. Wie auch die meisten noch freien Völkerschaften und Stämme in diesem Raum mußten sich diese nach und nach der Macht Roms beugen. Die damit eingetretene »Pax Romana« erscheint im politischen, auch »linken« politischen Diskurs manchmal als wahre »multikulturelle« Idylle. In Wahrheit waren die Sklavenhalter durch Wirtschaftsverfassung und Gesellschaftsordnung zu ununterbrochenen Raub- und Eroberungskriegen förmlich verurteilt, wollten sie den Nachschub an »sprechenden Werkzeugen« angesichts deren extensiven Verschleißes ausreichend sichern. Im Jahre 9 unserer Zeitrechnung setzte ein Aufstand germanischer Stämme unter Führung des mit dem römischen Bürgerrecht und der Ritterwürde ausgestatteten Cheruskeradligen Arminius der Ausdehnung Roms nach Nordosten ein Ende. Das Weltreich mußte sich für einige Zeit hinter dem Limes einigeln. Dann überrannten die Barbaren den Grenzwall und errichteten in den eroberten Gebieten ihre eigene Herrschaft mit einer neuen Form der Ausbeutung. Auch die Feudalstaaten strebten nach gewaltsamer Ausdehnung und führten unentwegt Krieg gegeneinander. Am Sklavenhandel beteiligten sie sich ebenfalls lebhaft. Da die menschliche Ware vor allem bei den jahrhundertelang geführten Eroberungskriegen deutscher Feudalherren gegen slawische Stämme beziehungsweise bei den Raubzügen der Wikinger in Osteuropa anfiel, nahmen
Ableitungen von der Eigenbezeichnung der Slawen (slovìne) in den germanischen und romanischen Sprachen schließlich die Bedeutung ›Sklave‹ an.
Die »Erneuerung des römischen Reiches« durch den Frankenkönig Karl den Großen und dessen Krönung zum Kaiser durch Papst Leo III. Weihnachten 800 werden von manchen Historikern (beispielsweise im 3. Band der Brockhaus-Weltgeschichte) als Vollendung der Einigung des »christlichen Abendlandes« gesehen. In der Tat reichte Karls Reich von der Spanischen bis zur Pannonischen Mark, vom Atlantik bis zur Adria, und schloß auch Norditalien mit ein. Doch die Slawen nördlich der Unterelbe und östlich der Saale waren vorwiegend noch unabhängig und mußten – meist mit Feuer und Schwert – erst für das Christentum gewonnen werden. Die sich über dreißig Jahre hinziehende Unterwerfung der mit den Franken sprachverwandten, aber wie die Slawen noch heidnischen Sachsen verlief nicht weniger brutal. Auch sie war von Massakern und, wie man heute sagen würde, von ethnischen Säuberungen begleitet. Karl fand im übrigen bei seinen Feldzügen gegen die Sachsen zuverlässige Bundesgenossen in deren slawischen Nachbarn, den Obodriten. Die inneren Verhältnisse im christlich-fränkischen Abendland waren nichts weniger als idyllisch. Insbesondere die Beziehungen der Angehörigen der herrschenden Geschlechter, der Merowinger und Karolinger, waren – bei letzteren später etwas abgemildert – ein einziger Mord und Totschlag.
So etwa stand es um die historischen Ursprünge vor über 10000 Jahren und um die Einheit Europas gegen das Ende des ersten nachchristlichen Jahrtausends. Ob die Verkünder der zitierten Thesen das bedacht hatten? Wohl kaum.
Und wie ging es weiter im vor kurzem zu Ende gegangenen Jahrtausend? Im Verlauf einiger Jahrhunderte setzte sich in Europa und von hier aus global die nunmehr herrschende kapitalistische Ausbeuterordnung durch. Zwar kann nicht bestritten werden, daß Aufklärung und Widerstand gegen Mißstände zumindest in einigen europäischen Staaten gewisse gesellschaftliche Fortschritte hervorgebracht haben. Doch im Gedächtnis bleiben vor allem die beiden Weltkriege und die schlimmsten Rückfälle in die Barbarei – Stalinismus und Naziherrschaft.
Was nun die gefeierte EU-Erweiterung betrifft, muß die Zukunft zeigen, welche Tendenzen bestimmend werden. Skepsis ist angebracht. Es sei nur an die Folgen der von zwei Dritteln der DDR-Bürger ebenfalls euphorisch gefeierten »Wiedervereinigung« Deutschlands, also des bedingungslosen Anschlusses der DDR an die Alt-BRD, erinnert.
Auf jeden Fall braucht auch die EU eine starke linke Opposition.