von Klaus Hart, Rio de Janeiro
Zehntausende neuimmatrikulierte Studenten des Tropenlandes sehen in diesen Tagen übel zugerichtet aus: Wie ein Häufchen Unglück, schauen sie triste, schicksalsergeben. Die älteren Semester haben sie aus Hörsälen gezerrt oder gleich auf dem Campus abgepaßt, mißhandelt, beschmiert und dann auf die Straße gejagt.
Dieses Aufnahmeritual, der Trote, sagen die »Veteranos«, diene dazu, sich bei den Neuen Respekt zu verschaffen, sie zu unterwerfen. Ausführende sind häufig die »Würmer«, also Studenten des zweiten Semesters, kontrolliert, angeleitet von den höheren Studiengängen. Einem »Verme«, der dabei nicht pariert, wird ein Trote wie für die Neuen angedroht.
Rafael Nascimento und Marco Miranda, angehende Ingenieurstudenten der Bundesuniversität von Rio de Janeiro, stehen barfuß an einer lauten Avenida im Strandstadtteil Copacabana: »Die Älteren haben uns mitten in der Vorlesung geschnappt – jetzt müssen wir tagelang, von morgens an hier um Geld betteln, abends immer alles abliefern. Sonst kriegen wir nämlich unsere Schuhe nicht wieder, die nehmen sie uns vorher immer weg. Vom heißen Asphalt haben wir schon überall Blasen. Sie wollen das Geld für ein Besäufnis, täglich fünfzig Real, das ist viel Geld. Wenn wir es nicht zusammenkriegen, müssen wir es uns eben von zu Hause holen oder borgen. Alles sehr erniedrigend – sie bewerfen uns mit Eiern, beschmieren uns in Tropenhitze mit Speiseöl, Farbe, Mehl, Ketchup, Senf, Kaffee – man kann dem nicht entfliehen, sie wenden Gewalt an.«
Läßt man beim sogenannten Trote die Studentinnen aus?
»Von wegen, denen geht’s genauso. Die werden sogar gezwungen, unglaubliche Dinge zu sagen, die keine Frau erzählen mag. Ob sie noch Jungfrau sind und warum – oder wie es beim allerersten Mal im Bett war. Sie müssen das erzählen – man zwingt sie dazu! Die älteren Studenten übergießen manchmal ihre Opfer sogar mit Alkohol, zünden sie an, immer wieder werden Studenten getötet. Erst nach dieser harten Prüfung wird man an der Universität als echter Student akzeptiert. Jeder erleidet das.«
Mehr als absurd sei das, meint auch Soziologieprofessor Cezar Honorato von Rios Staatsuniversität UERJ, der für die Vereinten Nationen Forschungsprojekte realisiert und internationale Kongresse abhält – und als Studentenberater den Trote in allen seinen Variationen kennt:
»Dieses gewalttätige Ritual verurteile ich scharf, ich bin gegen diese physische, aber auch psychische Gewalt. Der Trote gehört zu jenen Momenten, in denen die Gesellschaft sich entlarvt. Unser renommiertester Anthropologe, Roberto da Matta, sagt immer, wer Brasilien verstehen will, muß den Karneval und die Militärparaden kennen. Ich zähle den Trote dazu – hier manifestieren sich Autoritarismus und Machismus. Der Trote zählt zu jenen brasilianischen Dramen, die zeigen, wie die Gesellschaft wirklich ist. Sogar die Menschenwürde der Studentinnen wird tief verletzt – für mich ist auch Psycho-Folter, wenn man extrem zurückhaltende, sehr schüchterne Studenten zwingt, wild zu tanzen, zu singen, wie ein bekanntes Sexsymbol – das alles ist gravierend.
Gewalt gegen neue Kommilitonen eskaliert so stark, daß es sogar Tote gibt – inzwischen sind beim Trote auch harte Drogen im Spiel. Heute sehe ich ältere Studenten still und ruhig in der Bank sitzen – morgen attackieren sie auf einmal wie verrückt die Neuen – für mich ist das schockierend! Bezeichnend auch, daß gutbetuchte, reiche Studenten ausgespart werden.« Da erkenne man die unsichtbaren Machtstrukturen an der Universität. Übrigens: »Wer sich jetzt am meisten über die Trotes erregt, unter dieser Behandlung leidet, traktiert die Neuen nächstes Jahr genauso.«
Bezeichnend ist auch für den Soziologieprofessor, wie die Bevölkerung auf das abstoßende Ritual reagiert: Wenn die armseligen, verdreckten Gestalten in den Cities auftauchen, unterwürfig betteln, nimmt man das nur als eine groteske, witzige Spielerei junger Leute, einen Karneval nach dem Karneval, will lieber nicht sehen, was dahintersteckt. »Wir an den Unis schon.« Tumbe ausländische Touristen, die eh nur auf Brasiliens Erscheinungsebene herumtorkeln, richten unentwegt ihre schicken Digitalkameras auf die Bedauernswerten, grinsen amüsiert, spenden großzügig in den hingehaltenen Plastikbecher und begreifen nichts.
Zwar ist der Trote an allen öffentlichen Universitäten inzwischen offiziell verboten, gibt es glücklicherweise hier und da auch wirklich Abschwächungen. Doch besonders in Fächern wie Ingenieurwesen, Medizin, Recht und Sport ereignen sich zweimal im Jahr stets die gleichen grauenhaften Szenen. Viele Dozenten hassen die Trotes, bleiben deshalb der ersten Studienwoche fern, weil sie sich gegen die militanten älteren Semester einfach nicht durchsetzen können. Professor Honoratos Soziologiestudenten lassen indessen seit langem die neuen Kommilitonen in Ruhe.
Aber die Ingenieurstudenten Rafael Nascimento und Marco Miranda an der Copacabana – werden die genauso verfahren? »Wenn wir das hier überlebt haben, rächen wir uns dafür nächstes Jahr an den Neuen. Ob auch so gewaltsam, wie sie es mit uns taten, weiß ich allerdings noch nicht. Jedenfalls geht das ewig so weiter mit diesem Ritual.«
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