Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 10. Mai 2004, Heft 10

Bach-Noten für die Anerkennung

von Kathrin Singer, Kiew

Erstmals, so hatte die Deutsche Botschaft in Kiew im Dezember des vergangenen Jahres verlauten lassen, führe das Orchester der Nationalen Philharmonie unter der Leitung des in Deutschland lebenden ukrainischen Dirigenten Igor Blaschkow in Kiew Werke aus dem berühmten, eng mit der ukrainischen Hauptstadt verbundenen »Bach-Archiv« auf. Erstmals? Die Sache hat ein paar Fragezeichen.
Richtig ist: Die 2002 in einem Festakt des Auswärtigen Amtes gefeierte Rückführung des als Kriegsverlust abgeschriebenen Archivs der 1791 gegründeten Singakademie zu Berlin hatte in der Musikwelt großes Aufsehen erregt. Die musikhistorisch besonders wertvolle Sammlung war 1943 von Berlin zunächst nach Schloß Ullersdorf in Schlesien ausgelagert worden. Dort hatte sie ein sowjetisches Trophäenkommando entdeckt und noch während des Krieges in die Sowjetunion gebracht. In Deutschland galt sie seither als verschollen. Im Juni 1999 jedoch wurde der Notenbestand durch den aus Solingen stammenden Harvard-Professor Christoph Wolff plötzlich wieder aufgefunden: unter der Signatur »Fond 441« im Literatur-Archiv-Museum in Kiew. Eine Sensation! Die Bestände des Archivs umfassen mehr als 5100 Handschriften. Das sind über eine Millionen Seiten! Die rund vierhundert Werke der beiden ältesten Söhne von Johann Sebastian Bach, Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel Bach – Partituren und Drucke, 21 Passionsmusiken und zwanzig Kantaten – sind darunter zweifellos die prominentesten. Aber das Archiv bietet noch weitaus mehr. Viele wichtige Namen der deutschen und europäischen Musikgeschichte des 17. bis 19. Jahrhunderts sind vertreten – von Georg Philipp Telemann über die Gebrüder Graun und den Dresdner Hofkapellmeister Johann Adolf Haase bis zu Georg Friedrich Händel. Das alles war »verborgen und für die Welt der Kunst und Wissenschaft verloren« – wie Deutschlands Außenminister Joschka Fischer in seiner Festrede zur Rückgabe dieses Schatzes formulierte.
Gehören St. Petersburg mit seiner hervorragenden Philharmonie und Kiew und das ukrainische Radio nicht zu dieser »Welt der Kunst und Wissenschaft«? Dort – so kann der heute 67jährige Dirigent Igor Blaschkow berichten – hat man die Stücke schon lange vor ihrer »Wiederentdeckung« gespielt. Er selbst habe bereits im Jahre 1957 als junger Student in der Bibliothek des Tschaikowski-Konservatoriums Kiew die 1946 dort inventarisierten Bach-Noten gesehen. Nach Beendigung seiner Aspirantur am Rimski-Korsakow-Konservatorium in Leningrad habe er dann ab 1969 in Kiew nach und nach die alten Handschriften übertragen und die Werke in rund dreißig seiner Konzerte aufgeführt. Die Programmhefte hat Blaschkow bis heute aufbewahrt: Am 16. Mai 1969 ist eine Aufführung des Flötenkonzert D-Dur von Friedemann Bach mit dem Kammerorchester in Kiew verzeichnet, am 18. April 1981 mit den Leningrader Philharmonikern die Es-Dur Sinfonie von Carl Phillip Emanuel Bach. Im Kiewer Radio wurden fünf Aufnahmen mit Werken aus dem gleichen Archiv aufgenommen und gesendet. Das Archiv, so Blaschkow, sei jedem zugänglich gewesen. Seine Schülerin Irina Terechowa habe ihre Diplomarbeit zu diesem Thema geschrieben, sie hat sie 1981 erfolgreich verteidigt.
Erklärlich, daß Blaschkow hellhörig wurde, als er die Nachricht von der »sensationellen Entdeckung« vernahm. Wolffs Arbeit – so vermutet er – habe wohl vor allem dem Kommerz gegolten. Er soll eine hohe Summe für die Verwertungsrechte geboten haben. Daraufhin habe er – Blaschkow – in einem Brief an den damaligen Vizepremier der Ukraine, der von weiteren fünfzehn führenden Akademikern des Landes unterzeichnet worden sei, gefordert, den Verkauf des Archivs zu verhindern und Verhandlungen nicht zuzulassen. Auch mit Wolffs immer wieder vorgetragener Behauptung, wonach die Noten als Beutekunst argwöhnisch von ukrainischen KGB-Beamten bewacht und jedem öffentlichen Zugriff entzogen worden seien, habe er sich auseinandergesetzt – nunmehr in einem Brief an den Musikwissenschaftler selbst. Eine Antwort habe er jedoch nie erhalten – der gefeierte Harvard-Professor hatte an einem Kontakt mit dem Mann, der dreißig Jahre lang intensiv mit dem Archiv gearbeitet hatte, kein Interesse.
In Berlin hingegen hatte das zunächst etwas anders ausgesehen. Im März 2000 hatte Blaschkow dort in der Philharmonie mit dem Deutschen Symphonieorchester sein Debüt; gespielt wurden – natürlich – Bach-Werke aus dem »Kiewer« Archiv. Groß aber war Blaschkows Erstaunen, daß es am nächsten Tag keine Rezensionen in den Zeitungen gab, daß mit ihm geführte Interviews nicht erschienen und daß die geplanten CDs nicht produziert wurden. Als es 2002 den besagten Festakt gab, »vergaß« man ihn, er erfuhr davon aus der Zeitung. Als Ehrengast wurde Professor Christoph Wolff von Joschka Fischer begrüßt.
Johannes Posth, in Kiew lebender deutscher Geschäftsmann und ehemaliger Telecom-Vertreter, dessen Eltern und Großeltern in der Berliner Singakademie gesungen haben, bestätigt Blaschkows Geschichte. Blaschkow – so vermutet er – sei ganz offensichtlich unter die Räder der Politik gekommen. Nach der Ermordung des ukrainischen Journalisten Georgij Gongadse im September 2000 sei die ukrainische Regierung, der bis heute vorgeworfen wird, an dem Mord beteiligt gewesen zu sein, in eine außenpolitische Isolation geraten, aus der sie schnellstens wieder habe herauskommen wollen. Das Notenarchiv, für dessen Rückgabe sich Bundeskanzler Schröder höchstselbst stark gemacht habe, sei in dieser Situation zu einem geradezu idealen »Türöffner« nach Deutschland geworden. Und so habe man die Rückführung der Musiksammlung dann auch in einem geradezu spektakulären Tempo vollzogen. Im Januar 2001 habe Präsident Kutschma grünes Licht gegeben, und schon neun Monate später habe das Parlament in Kiew zugestimmt.
Nichts wurde über diese kontroversen Zusammenhänge in der deutschen Presse geschrieben. Und eben auch nichts über Blaschkows Konzert. Die Verhandlungen sollten nicht »belastet« werden.
Igor Blaschkow wohnt seit kurzer Zeit in Potsdam und hofft, irgendwo in Deutschland als Dirigent arbeiten zu können. Das bis heute im Westen anhaltende Stillschweigen über seine jahrzehntelange Arbeit mit dem Archiv kann er sich nicht erklären. »Ich habe einfach gespielt«, sagt er.