Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 12. April 2004, Heft 8

Rußland den Russen?

von Wladimir Wolynski, Moskau

Zu Zeiten der Sowjetmacht war in Rußland ein Wortspiel mit den Titeln der Partei- und der Regierungszeitung im Schwange: In der Prawda gebe es nichts Neues und in der Izvestija nichts Wahres. Dieser Witz ist – soweit es jedenfalls die Izvestija betrifft – überholt. Als eine von nur wenigen Zeitungen hat das Blatt jüngst die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage zum Thema veröffentlicht, ob Rußland allein den Russen gehören solle.
Nun ist bereits die Fragestellung nicht unproblematisch; sie wurde allerdings nicht durch die Zeitung, sondern durch das Institut formuliert, das die Umfrage veranstaltete. In Rußland leben, wie bekannt, keineswegs nur Russen, sondern Millionen sogenannter Fremdstämmiger. Tataren, Burjaten, Mordwinen, Jakuten, Tschetschenen sowie Angehörige vieler anderer Ethnien wohnen oft in seit einem Jahrtausend angestammten Siedlungsgebieten, andere Volksgruppen, zum Beispiel aus Tadshikistan, Aserbaidshan oder Georgien, sind hier als »Gastarbeiter« vertreten.
Doch die Frage nach Rußland und den Russen war gestellt und wurde beantwortet: 53 Prozent der Befragten votierten zustimmend: Ja, Rußland gehöre allein den Russen. 29 Prozent antworteten ausweichend, und lediglich achtzehn Prozent lehnten diese Losung ab. Letztere bezeichneten den Anspruch, Rußland allein den Russen vorzubehalten, als Ausdruck genereller Fremdenfeindlichkeit, als »puren Faschismus«.
Jeweils bis zu 5000 der extremen Anhänger dieser Idee, die »Glattrasierten« beziehungsweise die »Glatzen«, haben sich der Izvestija zufolge in Moskau und in St. Petersburg eingenistet. Aber auch in anderen Städten Rußlands schießt der »pure Faschismus« ins Kraut. Allein im Vorjahr haben Anhänger dieser Strömung zwanzig Menschen auf offener Straße ermordet.
Rußlands Faschisten tragen offen Nazisymbole und haben sich anstelle der braunen eine schwarze Uniform zugelegt. Ihre Anhängerschar wächst. Während es 2001 nach Untersuchungen des Jugendforschungszentrums Phönix in Rußland bis zu 35000 nationalistische Skins gab, sind es derzeit bereits mehr als 50000.
Mitte Februar dieses Jahres erschlug eine Rotte aus den Kreisen dieser zumeist jungen Russen in St. Petersburg das tadshikische Mädchen Chursheda Sultanowa mit Eisenstangen und Holzkeulen. Der noch jüngere Vetter der Neunjährigen – beide Kinder waren Schlittschuhlaufen gewesen – sowie der Vater des Mädchens, der die Kinder nach Hause begleitete, überlebten schwerverletzt.
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind auch in zahlreichen weiteren Städten Rußlands zu beobachten. Beispielsweise in Tula. Hier studieren an der Pädagogischen Hochschule auch Studenten aus China und Vietnam. Das Rektorat registrierte monatlich bis zu siebzehn Überfälle auf Studenten aus diesen beiden asiatischen Ländern. In Orla wurde jeder chinesische Student der Technischen Universität bereits mindestens einmal überfallen und das Studentenwohnheim mehrfach von »Glatzen« belagert. In beiden Städten empfahlen die Hochschullehrer ihren ausländischen Studenten, nicht auf die Straße zu gehen, weil ihnen kein Schutz gewährt werden könne.
Es gibt aber auch einige Landesteile, so im Ural oder in Fernost, wo es keine spürbare Fremdenfeindlichkeit gibt. Wissenschaftler sind der Auffassung, daß es in hohem Maße von den Regierungsbehörden abhänge, wie sich die Haltung gegenüber Ausländern entwickele. Bisher schweige sich die Regierung Rußlands aus, lediglich einzelne regionale Behörden hätten sich unmißverständlich gegen Fremdenfeindlichkeit ausgesprochen.
Semjon Nowogrudskij, ein Mann, der Angehörige beim Anschlag auf die Moskauer U-Bahn verloren hat, kommentiert die Situation nach den »Terroraktionen« in der offiziellen Hauptstadt Moskau und in der heimlichen Metropole St. Petersburg drastisch. Er sieht die »Logik der Politiker und Beamten« darin, daß sie als »Parasiten des Leids« leben. Einerseits verurteilten sie lautstark terroristische Aktionen, andererseits täten sie nichts, um deren Wurzeln zu beseitigen, sondern lenkten Wut und Haß gegen »Fremdstämmige« in der jeweiligen Stadt oder Region, im gesamten Land.
Das Ergebnis dieser Doppelzüngigkeit: Zwei Drittel aller Russen sprachen sich nach dem Anschlag in der Moskauer U-Bahn dafür aus, alle »Fremdstämmigen« auszuweisen.
In Wirklichkeit, so Nowogrudskij, habe die Verschärfung der Aufenthaltsregeln für Auswärtige nichts mit dem Kampf gegen den Terrorismus zu tun. Im Gegenteil, die ohne Aufenthaltserlaubnis in Moskau anwesenden Gastarbeiter – eines der wenigen deutschen Worte, die in jüngster Zeit in die russische Sprache eingegangen sind – seien arbeitsam und hätten nichts mit Terrorismus zu schaffen. Natürlich hätten auch Terroristen eine Nationalität; aber nicht ihre Nationalität dürfe der Grund für ihre Verfolgung sein. Der Staat hingegen fördere pauschal »Fremdenfeindlichkeit und Faschismus, indem er die niedrigsten Haßgefühle der kleinbürgerlichen Weltsicht« gegen Menschen anderer Nationalität richte.
So werde zum Beispiel der Gouverneur Tkatschew in Krasnodar nicht im geringsten daran gehindert, die in diesem Gebiet lebenden Mzcheten, ein turksprachiger Volksstamm, der bereits unter Stalin einmal aus dem Kaukasus komplett ausgesiedelt worden ist, aus dem Gebiet zu vertreiben.
»Wenn wir in Rußland leben wollen, dürfen wir nicht Menschen einer Nationalität oder eines Glaubens gegen andere Menschen hetzen. Die Logik des Pogroms ist die Logik des Terrors, die Logik des Krieges aller gegen alle. Das ist letztlich die Logik des Bürgerkriegs.«