Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 26. April 2004, Heft 9

Clima de Velorio – Begräbnisstimmung

von Klaus Hart, Rio de Janeiro

Im Nationalkongreß von Brasilia droht im März ein verzweifelter Arbeitsloser damit, sich von der hohen Zuschauer-Brüstung in den Senatssaal zu stürzen – die Parlamentarier unten springen aus den bequemen Ledersesseln, flehen ihn an, es nicht zu tun, sammeln in Windeseile Geld, versprechen ihm einen Job. Schließlich läßt er von seinem Vorhaben. Der Mann macht genauso Schlagzeilen wie die beinahe täglichen Zusatz-Verkehrsstaus in den Millionenstädten wegen riesiger Schlangen von Arbeitssuchenden. In der Amazonas-Hauptstadt Manaus braucht ein Supermarkt einige Aushilfskräfte – über zwölftausend stellen sich an. In São Paulo bietet die U-Bahn dreißig Stellen – tagelang stehen sich deshalb über einhundertdreißigtausend Menschen die Beine in den Bauch. Das lockende »Traumsalär« – umgerechnet keine zweihundertfünfzig Euro monatlich.
Für Arbeitssuchende mit Universitätsabschluß die gleiche Situation: Private, staatliche Unternehmen haben oft nur zwei, drei, fünf Stellen frei, unterziehen dafür aber gleich Tausende von Bewerbern sonnabends und sonntags jeweils sechsstündigen schriftlichen Prüfungen. Sie mieten für diese Prozedur Gymnasien oder Universitätsräumlichkeiten. Unter den Akademikern São Paulos ist derzeit die Arbeitslosenrate höher als unter den Analphabeten – mehr Bildung vergrößert keineswegs mehr die Beschäftigungschancen. Unvergessen ist, wie letztes Jahr in Rio sogar Anwälte, Ärzte, Lehrer und Buchhalter mit über hunderttausend weit weniger Qualifizierten um die Anwartschaft auf eine Stelle als »Gari«, Straßenfeger, konkurrierten.
Staatschef Lula war vor allem wegen seiner Versprechen gewählt worden, Erwerbslosigkeit und Armut rasch und wirksam zu bekämpfen – doch nun sorgen die von seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik provozierte Rekordarbeitslosigkeit, dazu der stetige Reallohnverlust, für immer neue schockierende Sozialphänomene.
Virginia de Jesus Santos wäre mit dem Bus bequem in einer halben Stunde auf ihrer Arbeit – doch der kostet umgerechnet fünfzig Cents, und das ist für die Brasilianerin unerschwinglich. Also steht sie jeden Tag vorm Morgengrauen auf, läuft drei Stunden größtenteils im Nachtdunkel bis in die City der Megametropole São Paulo – und abends wieder drei Stunden im Dunkeln zurück. Anders könnte sie die Miete für das winzige Zimmer, in dem sie mit ihren beiden Kindern lebt, nicht aufbringen, vom Essen und der Kleidung für alle drei ganz zu schweigen. In Südamerikas reichster Stadt und Wirtschaftslokomotive mit über tausend deutschen Firmen verfahren inzwischen rund zweihunderttausend auf die gleiche Weise – bei brasilianischen Stundenlöhnen von nicht selten unter fünfzig Cents ist jemand, der auch noch mehrmals umsteigen und damit mehrmals zahlen müßte, schlichtweg geliefert, läßt Busflotten, Vorortzüge und Metro an sich vorübersausen. Gar nicht mitgerechnet jene Hunderttausenden, die sich täglich paradoxerweise im Verkehrsgetümmel der drittgrößten Stadt der Welt zu Fuß auf die Arbeitssuche machen. Andere, die weit entfernt an der Slum-Peripherie hausen, doch mit einem dreistündigen Fußmarsch wie Virginia de Jesus Santos längst nicht Hütten und Katen erreichen, stellten sich noch radikaler um: wochentags schlafen sie nach der Arbeit wie die Obdachlosen unter Brücken, in Parks und Massenasylen und machen sich nur am Wochenende auf den langen Weg zu ihren Familien. In ganz Brasilien ging in den letzten Jahren die Zahl der Busbenutzer um dreißig, in São Paulo sogar um fünfzig Prozent zurück – während gleichzeitig die Fahrscheine um bis zu sechzig Prozent teurer wurden. Hier könnte sogar die Berliner BVG noch etwas lernen.
Wer sich mit der Bier- oder Cola-Büchse in der Hand am Strand von Rio oder im Ibirapuera-Park von São Paulo ein Samba- oder Klassikkonzert anhört, dem wird die ausgetrunkene »Lata« regelrecht aus der Hand gerissen. Jugendliche, junge Erwachsene, Rentner (von denen etwa achtzig Prozent mit nur umgerechnet 75 Euro auskommen müssen) jagen den leergetrunkenen Dosen hinterher. Auch Durvalina do Nascimento in São Paulo, 72, reihte sich in dieses Heer der »Catadores de Lata« ein. Er bekommt für zwei große Säcke voll plattgetretener Alu-Dosen umgerechnet achtzig Cents. In keinem Land der Erde werden derzeit makabrerweise »dank« hoher Arbeitslosigkeit mehr Latas recycelt. Jenes krachende Geräusch, das entsteht, wenn Catadores eine Lata routiniert per Fußtritt plattdrücken, gehört heute zu den normalen Straßengeräuschen in Rio, Salvador da Bahia oder Recife.
Der als gemäßigt geltende Kardinal Geraldo Majella Agnelo kritisierte im März die Wirtschafts- und Sozialpolitik Brasilias in bisher ungekannt scharfer Form. Der Kirchenmann forderte erstmals »radikale Änderungen« der Regierungslinie: »Hunger und Misere gab es immer in Brasilien – doch nie waren sie so sichtbar wie heute. Früher sah man in den Straßen nur Armut, doch so viel Elend wie heute nicht. Die Realität des brasilianischen Volkes ist heute ein tristes Schauspiel.« Die Regierung sorge sich sehr darum, das Kapital zu belohnen, doch der Arbeit alle Last aufzubürden.«
Nach den jüngsten Skandalen und Affären der Regierung murrt selbst das Regierungslager, drohen konservative Koalitionspartner mit dem Absprung. Im Präsidentenpalast herrscht erstmals »Clima de Velorio«, Begräbnisstimmung. Im Juli 2003 startete Lula mit großem propagandistischen Aufwand das Beschäftigungsprogramm »Primeiro Emprego« (Erste Arbeitsstelle) – innerhalb von zwölf Monaten sollten 250000 junge Leute einen Job erhalten. Das kam gut an, das Volk gab Lula weiterhin einen großen Vertrauensvorschuß. Doch neun Monate später erweist sich »Primeiro Emprego« als Flop – nur 503 Stellen wurden bisher vergeben. Gemäß neuesten Umfragen sinkt die Popularitätsrate des Staatschefs erstmals deutlich. Lula versucht wieder einmal, auf seine Weise gegenzusteuern: Er weihte Ende März mit großem Pomp im Teilstaat Minas Gerais die große Straßenbrücke Ponte Presidente Lula ein. Wie käme das wohl in Deutschland an, würde Gerhard Schröder grade jetzt vor viel herangekarrtem Volke und Würstchenbuden eine »Kanzler-Schröder-Brücke« dem Verkehr übergeben?