Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 29. März 2004, Heft 7

Protestantisch unverdaulich

von Martin Schirdewan

Schon lange suche ich nach einer Erklärung für den sozialdemokratischen Eifer, die gesellschaftlichen Grundlagen des homo politicus et socialis gründlich und endgültig in die Degeneration zu treiben. Bekannt sind mir natürlich die ökonomischen Erklärungsmuster, die die Handelnden sich durchaus alle Mühe geben, zutreffend und auch fleißig zu bedienen. Trotzdem ist es der Neoliberalismus nicht allein – obwohl der natürlich immer und überall die Schuld trägt. Jenseits des den Markt und das Wachstum vergötternden Glaubenssystems, jenseits der flexiblen und sich entfremdenden »Humanressourcen« wurde ich fündig.
Betrachtet man Deutschlands politische Landkarte, liegt die Antwort so nahe, daß es fast peinlich ist, sie nicht eher gefunden zu haben. Mea culpa. Die Sozialdemokraten sind in den westlichen und nördlichen Bundesländern traditionell stärker als die Christdemokraten. Zumindest war das vor deren suizidaler Sozialpolitik so. Die Christdemokraten hingegen haben ihre Hochburgen im Süden und Südwesten der Republik. Der Einfachheit halber vernachlässige ich solche irrelevanten politischen Faktoren wie die Liberalen, die Grünen und die anderen, deren Name mir schon lange nicht mehr einfällt. Fiele mir der Name jener welcher ein, ich getraute mich nicht, ihn auszusprechen.
Die Christdemokraten banden in katholischen Gegenden die Mehrheit der Wählerschaft erfolgreich an sich, den Sozialdemokraten gelang dies lange Zeit vorrangig in protestantischen Landstrichen. Wie der Soziologe Max Weber schon vor hundert Jahren breit und lang referierte, ist die protestantische Ethik religiös-moralische Grundlage des Aufkommens des Kapitalismus. Sie treibt den Menschen, im Diesseits nach Erfolg zu streben, um im Jenseits für sein mühevolles und strebsames, dem Müßiggang entsagendes irdisches Leben mit den süßen Trauben göttlicher Gnade belohnt zu werden. Mein lieber Herr Weber …
Was mit einem dauertrunkenen Pfaffen aus Wittenberg begann, entwickelte sich schnell zu einem Flächenbrand bäuerischer Sucht nach Teilhabe. Von den Feudalherren wurde diese Begehr wenig christlich, dafür aber im erweiterten Sinne des Wortes, exekutiert.
Ganz im Sinne der Reformation. Unter dem Mantel der Religion versteckt sich das Unwort der vergangenen Jahre. Dank unseres scharfen Verstandes entmänteln wir den sozialdemokratischen Unhold. Reform, mir graust vor dir. Mit protestantischem Eifer, den Geifer vor dem Maul, stürzt sich die reformistische – ich komme in diesem Zusammenhang einfach nicht an diesem Wort vorbei (und ich genieße seinen Gebrauch!) – stürzt sich die reformistische Partei-Elite auf die Sozialsysteme: gleich den Pilgrim Fathers und ihrer Nachkommen, die durch protestantische Ethik geprägt sich ins Recht gesetzt fühlten, sich auf die armen, halbnackten, scheuen und der Bibel unkundigen Ureinwohner jenes Kontinents zu werfen, der sich heutzutage zum Zentrum religiös verbrämter ökonomischer Scharlatanerie und Kriegstreiberei entwickelt.
Die Reihe der Beispiele ließe sich fortführen: Hat der ökonomische Liberalismus nicht seine Wurzeln im protestantischen Großbritannien? Ist der aktuelle US-amerikanische Präsident nicht ein selbsterklärter mitfühlender Konservativer?
Weshalb stürzen sich die Linken eigentlich immer so voller Abscheu auf den Katholizismus? In seinen Verbrechen, begonnen mit den Kreuzzügen, der Inquisition, des Genozids in Lateinamerika, war er kaum schlimmer als der Protestantismus. Und: Liegt in seinen moralischen Dogmen – denen er zweifellos nie gerecht wurde – nicht der Ursprung des Sozialismus? Mir zumindest erscheint er in seinem moralischen Anspruch sympathischer als der liberalere Protestantismus, der letztlich nur in Fragen der Moral und des Umgangs mit den Menschen liberaler ist. Nicht zum Vorteil der Menschheit. Oder besser, der gesamten Menschheit. Sondern nur zum Vorteil einer kleinen Schicht. Der die Leser dieses geschätzten Blättchens wohl nicht angehören.
Der protestantische Reformeifer der Sozialdemokraten hat eines der gewaltigsten gesellschaftlichen Deformprojekte der Postmoderne gezeugt. Daß sie sich dabei in einer ideologischen Koalition mit jenen Parteien befinden, deren Wählerschaft traditionell katholisch ist, aber ihrem verlorenen Sohn Sozialismus in unerbittlicher Feindseligkeit gegenübersteht, macht es nur um so schlimmer. Die Folgen für die Gesellschaft – oder um diesen abstrakten Begriff zu vernachlässigen und ihm konkrete Form zu geben – die Folgen für die Menschen, ohne im Detail auf sie eingehen zu wollen, werden eine radikale Deformation des sozialen Zusammenlebens sein.
So wird der Mensch dem Menschen tatsächlich Wolf werden müssen, um sein nacktes Überleben zu sichern. Die soziale Gerechtigkeit, der traditionelle Wert der Sozialdemokratie, findet in der von der Sozialdemokratie geformten neuen Gesellschaft keinen Platz mehr.
So wie sich der Kapitalismus erhob, beschwingt durch die industrielle Revolution, gemästet durch das Ausbluten der Kolonien und gesegnet durch den Protestantismus und seine Ethik, so erhebt sich heute die postmoderne kapitalistische Variante, beschwingt durch die technologische Revolution, gemästet durch die Ressourcen der in Abhängigkeit gehaltenen Länder der zweiten und dritten Welt, gesegnet durch den Protestantismus und seine Ethik. Deform, mir graust vor mir!
An das Ende dieses aus schierer Verzweiflung gespeisten Statements stelle ich einen Satz, der nur vermittelt im Zusammenhang mit dem Thema steht, aber viel zu treffend ist, um hier verheimlicht zu werden: Die bürgerliche Gesellschaft, krankend an ihrer Scheinmoral und ihren permanenten Lügen, wird eines Tages an dem Erbrochenen ihrer kapitalistischen Saturiertheit ersticken.