Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 15. März 2004, Heft 6

Ein Buch als Anlaß

von Lutz Rathenow

Eigentlich geht es nur um ein Buch. Das heißt Für heute reicht’s und beginnt verhalten. Eine eher stille, intensiv beschreibende Literatur. In einer Berliner Schauspielschule erfährt eine Elsa, kurz zuvor noch Schülerin, daß etwas an ihrem alten Gutenberg-Gymnasium in Erfurt nicht stimmt. Etwas Schlimmes scheint geschehen zu sein. Wie sie die eine Schule verläßt, um die andere aufzusuchen. Beobachtungen, Rückblenden, die Zugfahrt – das könnte der Auftakt für eine Erzählung voller sich allmählich aufbauender Spannung sein. Das Ungeheuerliche sticht in Handy-Botschaften und aufgeschnappten Sätzen auf Elsa ein. Sie kommt in Erfurt an, trifft Freunde, versucht zu begreifen. Ihr Mitschüler Robert Steinhäuser tötete sechzehn Lehrer und Schüler und richtete sich dann selbst. Die Dramatik offenbart sich manchmal in abseitigen Details. Elsa trifft ihre Eltern, die Mutter sieht gerade fern: »Elsas Mutter schaut kaum auf, ›hab schon das Schlimmste befürchtet.‹ ›Was denn?‹, fragt die Tochter. ›Ach weißt du, zwischendurch hab ich heute mal gedacht, du seiest das alles gewesen.‹«
Eigentlich geht es der Autorin Ines Geipel um die schreckliche Bluttat eines Erfurter Schülers, der sich am 26. April 2002 mit der größten Mordserie seit 1945 in Deutschland nicht nur in die Kriminalgeschichte schoß. Amok in Erfurt nennt sich der Untertitel des Bandes. Dabei zeigt die in Dresden geborene Autorin klar: Ein Amoklauf war dieser Massenmord nicht. Massenmord, was für ein Wort, in dem jedes Opfer noch nach seinem Tod in dem Begriff »Masse« verschwindet. Steinhäuser plante die Hinrichtung seiner Lehrer nach seinem begründeten (aber in der Form problematischen) Abgang vom Gymnasium monatelang. Er trainierte, munitionierte sich mit gespenstischer Zielstrebigkeit auf. Als wolle er, der Schulversager, der Welt beweisen, es auf einem Gebiet zur Perfektion zu bringen.
Die in Berlin lebende Schriftstellerin will diesem Erfurter Massaker auf den Grund gehen und Gründe dafür ausleuchten. Und zwar auf philosophischer, soziologischer, psychologischer und simpel kriminaltechnischer Ermittlungsebene gleichzeitig. Das macht das Buch brisant und anregend. Aber auch ungenau und angreifbar. Elsa begleitet den Leser bis zum Schluß und wird doch blaß und entbehrlich. Ines Geipel schreibt zwischen Essay und Reportage an gesellschaftliche Störungen heran. Die haben mit versagter Anerkennung für Jugendliche, mit Leistungserwartungen und auch dem doppelten Druck auf die Schüler nach dem Ende der DDR zu tun. »Einerseits hatten sie der ungebrochenen Anpassungsmentalität ostdeutscher Lehrer Paroli zu bieten …, andererseits gab es plötzlich die westdeutsche Leistungsschule mit ihrer Bevorzugung der funktionalen Intelligenz.«
Die Eltern sind beschäftigt, aus DDR-Zeiten eingeübte Verhaltens- und Überlebenskonzepte taugen für die neue Situation nicht: »Die spezifische Identitätsschwäche der Elterngeneration verlängert sich in den Jahren der politischen Neuordnung in Ostdeutschland – in der Zeit also, da Robert Steinhäuser nächtelang vor dem Computer sitzt – und wirkt mächtig in die Kinder hinein.«
Solche Sätze werden an anderen Stellen des Buches immer wieder relativiert oder zurückgenommen. So vollführt es ein wenig das, was nach Ines Geipel der leistungsschwache Schüler Steinhäuser die letzten Schuljahre machte: Es switcht sich so durch. Denn neben der speziellen Ostprägung spielt jene der globalen virtuellen Welt garantiert eine Rolle. Die Autorin skizziert neuartige Riten von Kommunikation und Macht, von Abhängigkeit und Gier – diese Welt der Internet-Parties und -Spiele, oft begleitet von Drogenkonsum. An einer Stelle wird auf die genetische Veranlagung zur Schizophrenie in Steinhäusers Familie verwiesen. Der in neuen Forschungen behauptete Zusammenhang von Drogen als Auslöser solcher Erkrankungen bei genetischer Disposition bleibt allerdings unerörtert. Dafür werden Zusammenhänge von der virtuellen Welt und der DDR vermutet:
»Für die Jugend des Ostens wird das Internet in den neunziger Jahren etwas wie der Transmitter zwischen alter und neuer Zeit. Dort wird das Nichtsprechen der Eltern und Lehrer umcodiert in eigene Sprachen. Dort hat die Welt … noch eine gewisse Ordnung. Dort braucht es keine Vermeidungs- und Ausweichstrategien. Dort spricht man aus, was radikal macht.«
Solche und ähnliche Stellen im Buch akzeptieren viele Schüler und Lehrer am Gutenberg-Gymnasium heute nicht. Sie protestierten nicht nur bei einer überfüllten Präsentation in einer Kirche gegen Buch und Autorin. Sie möchten nicht als permanent kiffende, schulfrustrierte, potentiell Gewaltbereite dargestellt werden. Elsa im Buch drückt eine Stimmung aus, von der sich Schüler verletzt fühlen. Das ist eine ernstzunehmende Kritik an der Kompetenz der Autorin, zumindest was die Verarbeitung des Geschehenen nach dem Attentat betrifft. Andererseits wird unzweifelhaft verdrängt. Eine Schülerin einer anderen Erfurter Schule mailte mir, daß sie in den Monaten nach dem Schreckenstag unter Schülern häufiger den Spruch hörte »Da könnte ich glatt zum Robert werden.«
Der letzte Tag Robert Steinhäusers wird im Buch beklemmend intensiv erzählt. Wie er sich Raum für Raum durch die Stockwerke der Schule schießt. Immer auf der Suche nach Lehrern. Wie er durch die Pause aus dem Tritt kommt und planloser feuert. So auch Schüler trifft und tötet. Wie manche Opfer noch stundenlang leben, der Biologielehrer Hans Lippe sich schreiend und schwer verletzt über eine Stunde durch die Schule schleppt – und verblutet. Aus Angst vor dem möglichen zweiten Täter stürmt das SEK nicht, im nachhinein ein klarer Fehler.
Und spätestens an dieser Stelle gerät der Band zum Politikum. Er bietet der Öffentlichkeit eine Diskussion über das Versagen der Einsatzkommandos und die Hilflosigkeit der Politik danach an. Ein Anwalt taucht auf, der seit Monaten klagen will. Vieles wirkt hastig gedacht und gefragt. »Warum darf es keine Fehler gegeben haben? Warum muß das Ganze in dieser Weise beschwiegen werden?«
Der Text täuscht am Anfang einen Roman vor. Doch die Literarisierung lenkt zunehmend von den Fakten ab und erleichtert eine Beliebigkeit der Reflexionsebenen. Ines Geipel wollte dem Erfurter Massaker auf den Grund gehen und wirbelte dafür viele mögliche Gründe auf. Als Buch scheitert diese Mischung aus Belletristik und Sachbuch, aus Recherchestück und soziologisch-philosophischem Essay. Aber es ist ein Scheitern auf interessantem Niveau mit anregenden und verblüffenden Aspekten.

Ines Geipel: Für heute reicht’s. Amok in Erfurt, Rowohlt Verlag Berlin, 256 Seiten, 16,90 Euro (In dem neuen Buch Lutz Rathenows »Fortsetzung folgt. Prosa zum Tage« findet sich auch ein kurz nach der Tat geschriebener und im DLF Köln gesendeter Text zu dieser Tat.)