Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 29. März 2004, Heft 7

Dritter Putsch in Venezuela?

von Otto Pfeiffer

Im April 2002 hatte »Carmona der Kurze«, der von militärischen und zivilen Verschwörern als »Übergangspräsident« eingesetzte Chef des Industriellenverbandes, keine drei Tage regiert, als ihn anderthalb Millionen Bewohner der Armenviertel von Caracas und verfassungstreue Militärs davonjagten und den gewählten Präsidenten Hugo Chávez Frías zurückholten. Lateinamerikanische Militärputsche schienen auch nicht mehr das, was sie einmal waren, jedenfalls nicht in Venezuela.
Der zweite Anlauf sollte dem Land das wirtschaftliche Rückgrat brechen. Die Lahmlegung der Erdölindustrie ab Dezember 2002 verursachte zwölf Milliarden US-$ Verluste. Über eine Million Arbeitsplätze gingen zeitweilig verloren. Fast ein Vierteljahr lang litten die Menschen unter Versorgungsschwierigkeiten bei Lebensmitteln und Brennstoffen. Sie ließen sich nicht unterkriegen. Das Erdöl, das über neunzig Prozent der Deviseneinnahmen erbringt, floß schließlich wieder und liefert die notwendigen Mittel zur Finanzierung der Sozial-, Bildungs- und Strukturprogramme der Chávez-Regierung. Beide Attacken waren harte, gefährliche Proben. Sie hatten aber auch ihr Gutes: Bisher verborgene Gegner bekannten Farbe und schieden aus dem Spiel.
Doch die von der Bolivarischen Revolution ausgebootete alte Machtelite gibt sich nicht geschlagen. Sie verfügt über ihren unangetasteten Kapitalbesitz, hat die Übermacht in den Medien, Positionen im alten Staats- und Justizapparat und nicht zuletzt mächtige Verbündete im Ausland. Welche neue Variante würde sie wählen, um wieder an die Macht zu gelangen?
Am 23. Mai 2003 hatten Vertreter der Regierung und der Opposition unter dem Patronat der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), des Carter-Centers aus den USA und des UNO-Entwicklungsprogramms (UNDP) ein Abkommen unterzeichnet, das eine friedliche, demokratische Lösung des innenpolitischen Konflikts auf der Basis von Wahlen vorsah. Die 1999 mit achtzig Prozent der Wählerstimmen angenommene neue Verfassung bietet die Möglichkeit, nach der Hälfte der Legislaturperiode jeden Amtsträger einschließlich des Präsidenten abzuwählen, wenn wenigstens zwanzig Prozent der Wahlberechtigten das durch Unterschrift fordern. Während die Regierung darin die Möglichkeit sah, die Auseinandersetzung in verfassungsmäßige Bahnen zu lenken, versuchte die Opposition immer wieder, dieses Gleis zu verlassen. Zunächst hieß es, sie betrachte die Unterschriftensammlung gegen den Präsidenten – sie fand vom 29. November bis 2. Dezember 2003 statt – nur als Auftakt zu einer Kampagne des zivilen Ungehorsams. Dann wurde behauptet, man habe eine so große Zahl von Unterschriften gesammelt, daß sich ein Abberufungsreferendum erübrige und der Präsident sofort zurücktreten müsse. Schließlich wurde die Neutralität des vom Obersten Gericht eingesetzten Nationalen Wahlrats (CNE), der die Unterschriften prüft und zählt, in Zweifel gezogen.
Das jetzt am 2. März verkündete Prüfergebnis ist gegenwärtig der heißeste Streitpunkt. Mindestens 2,4 Millionen Unterschriften benötigt die Opposition, um die Abwahl des Präsidenten einzuleiten. Etwa 1,8 Millionen hat der CNE als korrekt bestätigt. Über 370000 wurden verworfen: Auf den Listen standen Verstorbene, Minderjährige, Ausländer, Mehrfachunterzeichner, nicht im Wahlregister erfaßte Personen und so weiter. Über 800000 Unterschriften bedürfen wegen Nichteinhaltung der gesetzlichen Bestimmungen einer nochmaligen Bestätigung.
Das Reglement forderte die eigenhändige Eintragung aller Personaldaten in die Listen. Das hatte auch die Opposition in ihrer Wahlpropaganda betont. Nun tauchten plötzlich über 800000 Eintragungen auf, bei denen identische Schriftzüge erkennbar sind, selbst bei vielen Unterschriften. Der CNE entschied, daß auf diesen Listen geführte Personen nochmals ihre Unterschrift bestätigen müssen. Die Opposition lehnte jedes Bestätigungsverfahren ab und versuchte die internationalen Beobachter (OAS und Carter-Center) zu bewegen, wenigstens die umgekehrte Prozedur zu fordern: Wer von der Liste gestrichen werden wolle, müsse sich melden. Es wäre keine Überraschung, wenn die Mehrzahl der »Unterzeichner« auf diesen Listen überhaupt nicht existiert. Da sich diese Phantome natürlich nicht melden könnten, würden ihre »Unterschriften« bei diesem Verfahren automatisch gültig.
In die Enge getrieben, ergriff die Opposition die Flucht nach vorn und inszenierte am 27. Februar den Marsch zur Tagungsstätte des G-15-Gipfels für Süd-Süd-Zusammenarbeit, wo höchste Vertreter aus neunzehn Staaten tagten, darunter sechs Staatschefs. Dorthin wollte man in Konfrontation mit den Sicherheitskräften durchbrechen, »koste es, was es wolle«, um eine Petition zu überbringen. Es kostete zwei Todesopfer und mehrere Verletzte. Daß es dieser Provokation nicht bedurft hätte, bewies ein Gespräch von Vertretern der Opposition mit Argentiniens Präsident, Nestor Kirchner, das ohne Probleme stattfinden konnte.
In der Woche darauf vollzog sich immer wieder das gleiche Spiel: Aufgeputschte Gangs traktierten die Nationalgarde mit Steinwürfen, errichteten Straßensperren aus angezündeten Autoreifen und zogen sich blitzartig wieder zurück. Leidtragende sind hauptsächlich die Bewohner der »besseren« Stadtviertel, in denen die Opposition ihre Hochburgen hat. Währenddessen geben ihre politischen Führer in Nobelhotels Pressekonferenzen, fordern zu neuem »Widerstand« auf und klagen lautstark die »Einhaltung der Menschenrechte« ein. Destabilisierung des Landes und internationale Intervention nach Maßgabe der Interamerikanischen Demokratischen Charta der OAS vom 11. September 2001 sind ihre Devisen. Venezuela soll als unregierbar hingestellt werden – unter der Losung »Heute Aristide – morgen Chávez«. So unverblümt hatten es dann aber die USA – zwar strategisch im Bunde mit der venezolanischen Opposition, jedoch gerade wegen Haiti international unter Druck geraten – nicht ganz so gern. Außenminister Powell meinte, man müsse in Rechnung stellen, daß Hugo Chávez der gewählte Präsident Venezuelas sei.
Um eine Prüfung der über 800000 fragwürdigen Unterschriften unter allen Umständen zu verhindern, wandten sich die Chávez-Gegner an die ihnen geneigte Kammer für Wahlrechtsfragen des Obersten Gerichtshofs. Ohne auch nur eine Liste in Augenschein zu nehmen oder Vertreter des Nationalen Wahlrats anzuhören, entschied diese, die Unterschriften seien anzuerkennen. Dem steht der Spruch der Kammer für Verfassungsfragen des gleichen Gerichts entgegen, die der Wahlrechtskammer die Kompetenz in dieser Frage abspricht. Außerdem laufen Berufungsverfahren der Regierungsseite. Formal ist wieder alles offen.
Übrigens drohten einige regierungsfeindliche Provinzgouverneure kürzlich damit, die Autorität der Zentralregierung zu ignorieren und ihre Bundesstaaten zu »unabhängigen Republiken« zu erklären. Sollen sie doch, meinte der Präsident, er garantiere ihnen, daß diese »Republiken« schneller enden würden als die Regierungszeit von »Carmona dem Kurzen«.