Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 15. März 2004, Heft 6

Der lange Weg zur Donau

von Ulrich Brockmeyer, Budapest

Leo Kleinschmidt fährt mit dem Zug und mit großem Gepäck nach Ungarn. Sein Ziel ist Budapest. Das ist jedoch nur ein Reiseziel, etwas Geographisches. Das eigentliche Ziel läßt sich nicht in einem Ortsnamen, einem Wort, einem einzigen Satz beschreiben. Denn Leo Kleinschmidt ist dabei, sein Land zu verlassen, ein Land, von dem er bis heute nicht sicher ist, ob es ihm jemals Heimat war, an das er dennoch zuweilen mit durchaus heimatlichen Gefühlen zurückdenkt. Er verläßt die DDR, für immer, das hat er sich zumindest vorgenommen. Daß ihm das niemals ganz gelingen wird, weiß er zu jenem Zeitpunkt noch nicht, und wir wissen nicht, ob ihm das heute bewußt geworden ist …
Leo Kleinschmidt ist einer von vielen Tausenden, die im Laufe der nur vierzig Jahre währenden Geschichte die DDR verlassen haben. Aber im Gegensatz zu all den Tausenden fährt er nicht nach Westen, sondern in eine andere Richtung. Geographisch gesehen ist es der Süden, politisch der Osten. So mancher seiner Freunde und Bekannten will ihn für verrückt erklären, und auch die Behörden, die ihm letztlich die Ausreise genehmigt haben, behandeln ihn ungläubig. Aber sein Entschluß steht fest, Leo Kleinschmidt will sein Land verlassen und ein neues Leben beginnen.
Er hätte durchaus auch in Richtung Westen fahren können, die Gelegenheit dafür hätte sich ihm geboten, sowohl auf eine illegale, nicht ganz sichere und etwas gefährliche Weise; aber ihm wurde sogar eine ganz legale Möglichkeit aufgezeigt. Er hat sie nicht genutzt. Dieser Westen war ihm einfach zu fremd, und später, als er eine Zeitlang dort lebte, hat sich diese Fremdheit immer wieder bestätigt. Ungarn ist ihm ebenfalls fremd, er hat keine Vorstellungen von der Sprache, die er nicht versteht, keine Pläne, wie er seinen Lebensunterhalt verdienen will. Aber er hat dort eine Familie gefunden, eine junge Frau, die er heiratet und die ihm den Vorwand für seine Ausreise liefert.
Leo Kleinschmidt ist 25, als er in Halle/Saale mit dem Reisepaß in der Tasche den Zug in Richtung Budapest besteigt. Er hat bereits ein bewegtes Leben hinter sich. Es ist das Leben eines jungen Mannes, der sich nicht bedingungslos an gegebene Verhältnisse anpassen will und kann. In der Schule eckt er mehrmals an, schließlich wird er relegiert. Sein Abitur macht er Jahre später mit viel Mühe auf dem zweiten Bildungsweg. Er tingelt durch das kleine Land, versucht sich an verschiedenen Theatern, darf sogar zuweilen eine kleine Rolle spielen. Er sucht Halt bei der Kirche und findet ihn zuweilen. Als politisch Unbeteiligter erlebt er den Bau der Mauer und begreift dieses Ereignis zunächst nur als Hindernis und vorläufiges Ende seiner gelegentlichen Fahrten nach Westberlin, zu Verwandten oder ins Kino. Die weiterreichende Bedeutung wird ihm erst klar, als in der DDR die Wehrpflicht eingeführt wird und Leo Kleinschmidt unter den ersten jungen Männern ist, die zur Armee eingezogen werden sollen.
Nun beginnt für Leo Kleinschmidt der große Konflikt. Er mag sich nicht für den Dienst an der Waffe ausbilden lassen, und es widerstrebt ihm zutiefst, sich in eine militärische Hierarchie einordnen zu müssen. Er faßt den Entschluß, den Wehrdienst zu verweigern. Dies ist in dem Land, in dem er lebt, noch nie dagewesen. Die Behörden reagieren zunächst ratlos, dann mit aller Konsequenz. Um mögliche Nachahmer abzuschrecken, wird Leo Kleinschmidt als erster Wehrdienstverweigerer zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Im September 1963 beginnt für ihn eine Reise durch mehrere Haftanstalten und damit ein Trauma, das ihn bis heute nicht loslassen kann. Das Stigma des Ex-Häftlings, seine Unklarheit über die eigene weitere Entwicklung, zahlreiche Frauengeschichten – er ist bereits mit zwanzig zweifacher Vater, beide Kinder
haben allerdings verschiedene Mütter – und viele andere Irrungen und Wirrungen hindern ihn, nach der Entlassung aus dem Gefängnis seinen Weg zu finden. Der Versuch, die begonnene Karriere am Theater fortzusetzen, scheitert gründlich, und auch ein Studium will nicht richtig gelingen. So reift der Gedanke, im Verlassen des Landes einen Ausweg zu suchen …
Hans-Henning Paetzke hat in diesen Tagen seinen ersten Roman vorgelegt. Es handelt sich dabei weitgehend um ein autobiographisches Buch, viele Erlebnisse des Leo Kleinschmidt stimmen mit denen von Paetzke überein. Wie es nach seiner Ankunft in Budapest im Jahre 1968 mit Leo Kleinschmidt weitergeht, wissen wir noch nicht, das ist einem zweiten Buch vorbehalten. Wir wissen jedoch, daß aus Hans-Henning Paetzke ein angesehener literarischer Übersetzer geworden ist, durch dessen Arbeit den deutschsprachigen Lesern die Werke von mehreren ungarischen Autoren zugänglich gemacht werden konnten. Dazu gehört in erster Linie György Konrád, der Paetzke in einem eigens verfaßten Vorwort als seinen Freund seit fünfundzwanzig Jahren bezeichnet.

Hans-Henning Paetzke: Die gelöste Zunge, Verlag Gabriele Schäfer Herne 2004, 252 Seiten, 15 Euro