Des Blättchens 6. Jahrgang (VI), Berlin, 1. September 2003, Heft 18

Deutschland, einig Opferland

von Wolfgang Sabath

Die Urlaubskarte kam aus dem Kurort Swieradów Zdrój. Da auch die Zeitungen auf dem Gebiet der einstigen besonderen politischen Einheit DDR seit langem alles daransetzen, die – nun schon seit einem halben Jahrhundert geltenden – polnischen Ortsbezeichnungen ihren Lesern die sie sich zuvor fleißig angeeignet hatten, wieder auszutreiben und ihnen statt dessen die alten deutschen einzubleuen, wissen immer weniger Leute, was mit diesem Swieradów Zdrój gemeint ist. Auch das Neue Deutschland macht da, insbesondere auf seinen Reiseseiten, keine Ausnahme. Gemeint ist das einstige Bad Flinsberg im Isergebirge.
Auf der Ansichtskarte wurde mitgeteilt, daß die Schamschwelle von deutschen Polenreisenden enorm gesunken zu sein scheint: »… Wir sitzen an einem Tisch mit zwei (West-)Berlinern. Gestern abend erinnerte sich der eine an das Lied Es steht ein Soldat am Wolgastrand, der andere an In einem Polenstädtchen. Es ist zum Verzweifeln.« Vermutlich fand der Schreiber die geographische Zuordnung der Polit-Rülpse (»Westberliner«) wichtig, weil er sich davon eine Erleichterung der Art versprach: Westberliner, na ja …
Indes: Damit läge er, so denn meine Vermutung zutrifft, etwas daneben. Denn diese Denkungsart ist natürlich kein »Westprivileg«. Allerdings hat derartiges Volk in den sogenannten Altbundesländern einen Vorsprung, der kaum wettzumachen sein wird: Als in der DDR dumm-völkisches Liedgut nur gesummt werden konnte, durfte im Westen schon gesungen werden. Für Witze mag das gleiche gelten. Und laute Reden hatten sie natürlich im Westen auch, vorzugsweise alljährlich zu Pfingsten.
Doch es fehlte nach 1989 mitnichten an Lernfähigen und Lernbereiten. Wer sich aufmerksam in Ostdeutschland umsieht, dem werden in sächsischen und thüringischen Dörfern die aufgeschmuckten Kriegerdenkmale zum Weltkrieg I auffallen, manchmal mit einer Tafel zu Weltkrieg II ergänzt. Immer frische Blumen, immer geharkt. »Unseren Helden«. Auch im Osten trauen sie sich wieder.
Gesamtdeutsch scheint sich eine neue Qualität anzubahnen. Es wird auf die Opferrolle gepocht. Grass, der Luftkrieg, die Vertreibung nebst eines dazugehörigen »Zentrums« – es handelt sich um ein Geflecht von Opfertum. Endlich: wir die Opfer!
Die ausländische Öffentlichkeit ist ob dieser Vorgänge irritiert. Insbesondere bei den polnischen Nachbarn reibt man sich die Augen und schärft die Stimmbänder, fragt nach und stellt gewisse Angelegenheiten richtig. Das wurde letztens besonders bei der Absicht deutscher Vertriebenenfunktionäre deutlich, ein Vertriebenenzentrum in Berlin zu errichten. Besonders Marek Edelmann redete Tacheles (von Präsident Aleksander Kwasnieski und Premier Leszek Miller dürfen solche offenen Worte nicht erhofft werden, denn die stehen für eine Gutwetterpolitik und sind außerdem vollauf damit beschäftigt, ihre real-polnische Sozialismusvergangenheit vergessen zu machen). Marek Edelman also, letzter noch lebender Kommandant der Warschauer Ghettoaufstandes.
Konsequent rigoros und undiplomatisch erklärte er in einem Interview mit der katholischen Wochenzeitschrift Tygodnik Powszechny unter anderem: »Die Deutschen haben für ihre Politik – unter anderem die Unterstützung Hitlers – mit der Vertreibung bezahlt.«
Dieserart Widerstände geben den Befürwortern eines »Zentrums gegen Vertreibungen« die treffliche Gelegenheit, in eine zweite deutsche Lieblingsrolle zu schlüpfen und die von aller Welt Unverstandenen und Mißverstandenen zu geben.
Gewiß, es hat besonders nach Grassens Krebsgang und vor allem nach der Publikation über den alliierten Bombenkrieg, wochen- und monatelange Debatten über das Für und Wider gegeben. Und in der Tat: Einfache Antworten sind da nicht immer zu haben. Insbesondere dann nicht, wenn bei derartigen Erörterungen (zu Recht) auch in Betracht gezogen wird, daß Völker, Bevölkerungen, »die einfachen Menschen« sozusagen, häufig schicksalhaft in Abläufe verwickelt sind, die ab bestimmten Punkten von ihnen in der Regel nicht mehr beeinflußbar sind. Dieses Geworfensein einmal konzediert, bleibt für mich immer noch das unerklärliche (und dennoch natürlich erklärbare …) Phänomen, daß ich in den vergangenen gut vierzig Jahren noch nie – nie! – auf einen früheren Wehrmachtsangehörigen gestoßen bin, der getötet hat. Die, die ich traf, waren immer in der Etappe oder in Frankreich, oder sie waren Koch oder Schreiber. Oder Musiker; mir ist auf ewig unvergessen Hermann Kants Geschichte von jenem Manne, der vor Moskau in Gefangenschaft geriet und den Sowjetsoldaten mit dem Spruch »Ich nicht Soldat, ich Tätteretä« entgegentrat.« Ich bin in meinem Leben bislang nur auf Tätteretäs gestoßen.