Des Blättchens 6. Jahrgang (VI), Berlin, 15. September 2003, Heft 19

11. September

von Jürgen Scheich

Flucht in die Botschaft. Das kleine Areal von Exterritorialität soll uns Schutz bieten. Am Morgen dieses elften September 1973 glauben einige noch immer nicht an einen Staatsstreich, obwohl davon seit Wochen im geschwätzigen Santiago die Rede ist. An diesem Dienstagmorgen versuchen die Studiotechniker in der Berliner Nalepastraße vergeblich, die Verbindung nach Santiago de Chile – zu Radio Magallanes – herzustellen. Von dort gebe ich sonst meine Korrespondentenberichte durch.
An diesem Elften ist alles anders. Allende spricht im Rundfunk. Drei Mal. Allein Radio Magallanes, der Sender der chilenischen Kommunisten, überträgt seine letzte Rede. Nur einige Häuserblocks von der Moneda, dem Präsidentensitz, entfernt liegen die Senderäume. Dorthin zu gelangen, kommt Selbstmord gleich. Die Moneda steht in Flammen. Der Krieg der chilenischen Streitkräfte gegen das eigene Volk hat begonnen.
Die Schiffe der Kriegsmarine sind nachts in die Hafenstadt Valparaiso zurückgekehrt, von wo sie Stunden zuvor zu den verabredeten Manövern mit der US-Navy ausgelaufen waren. Eine Verhaftungswelle erreicht die Stadt, erfaßt das Andenland. Lähmendes Entsetzen, trügerische Erwartungen, heiliger Zorn breiten sich aus. Arbeiter eilen nach Hause. Studenten verbarrikadieren sich.
Der Widerstand im Industriegürtel von Santiago bricht schnell zusammen. Zu wuchtig ist der Schlag der Putschisten. Und letztlich sind die Parteien der Unidad Popular, des Regierungsbündnisses, trotz allem Gerede nicht darauf vorbereitet. Zwar wußten und spürten sie, daß Washington nicht gewillt war, einen demokratisch gewählten Sozialisten Allende hinzunehmen, denn dieser hatte sich daran gemacht, die US-amerikanischen Kupferkonzerne zu nationalisieren. Einst waren sie mit einer Anfangsinvestition von dreieinhalb Millionen Dollar ins chilenische Geschäft eingestiegen. Nach sechs Jahrzehnten hatten die vier Gesellschaften 10,8 Milliarden Dollar auf ihrer Habenseite. Soviel Werte hatte die chilenische Gesellschaft in vierhundert Jahren ihrer Geschichte beim Aufbau ihres Gemeinwesens und ihrer Infrastruktur nicht zusammenbringen können.
Außerdem hatten in den Monaten vor dem Putsch die einheimischen Unternehmer mit Boykott und Streiks das wirtschaftliche und soziale Leben fast zum Erliegen gebracht.
Salvador Allende hatte in den tausend Tagen seiner Regierung das triste Dasein der Unterprivilegierten zu ändern versucht. Der tägliche halbe Liter Milch für deren Kinder bleibt ein Markenzeichen seiner Politik. Auch wenn sie zum Schluß ob der Bedrängnis von rechts kaum noch durchzuhalten war. Deshalb dachte Allende an ein Plebiszit. An diesem elften September 1973 wollte er es vor Studenten in Santiago bekannt geben. Das Volk sollte über die Politik der Unidad Popular befinden. Ausgang offen.
Mut und Irrtum liegen oftmals dicht beieinander. Kurz zuvor hatte Allende den Infanteriegeneral Pinochet zum Heereschef ernannt. Allende hielt ihn für eine Null. Doch aus dem Zero wurde ein Nero. Er trieb Allende in den Selbstmord und ließ Tausende seiner Anhänger ermorden, verhaften, außer Landes fliehen. Die neuen Machthaber hatten es eilig, das gewählte Staatsoberhaupt Chiles unter die Erde zu bringen. Schon tags darauf wurde er, dem »die Treue zum Humanismus aller Epochen – besonders zum marxistischen Humanismus« Lebensprinzip geworden war, in einer Familiengruft in Viña del Mar hastig beigesetzt. In den Familien der momios, der Geldaristokratie werden die Champagnerflaschen geöffnet.
An der Wirtschaftsfakultät der Katholischen Universität ist in den sechziger und siebziger Jahren an neuen Modellen für das ressourcenreiche Andenland geknobelt worden. Professoren und Studenten dieser Bildungsanstalt pilgerten nach Chicago, wo an der dortigen Universität ein gewisser Milton Friedman lehrte. Er gab später Pinochet den Rat: »Kümmern Sie sich nicht um das Ansehen im Innern, Präsident. Versuchen Sie, daß die internationalen Unternehmen hier eine gute Erde zum Säen finden. Die Probleme muß man mit einem Mal lösen, so wie man mit einem Hieb dem Hund den Schwanz abschlägt.« Die »Chicago boys« predigten nicht nur das freie Unternehmertum, sie begannen, es mit dem elften September 1973 zu praktizieren. Der Neoliberalismus faßte in Chile als erstem Land mit aller Brutalität Fuß. Die Preise explodierten. Der öffentliche Raum wurde privatisiert. 65 Prozent der chilenischen Kupfergewinnung ist heute wieder in ausländischer Hand.
Und auch die Militärs bedienten sich. Zehn Prozent vom Kupferverkauf strichen sie ein. Daran haben auch die 1990 ins Amt gelangten demokratisch legitimierten Regierungen nichts geändert. Es ist nicht das einzige vergiftete Erbe aus Pinochets Zeit. Fast dreitausend Tote. Hunderttausende Leben nahmen nolens volens einen anderen Verlauf.
Ricardo Lagos, Präsident eines Mitte-Links-Bündnisses, ist wie seine christdemokratischen Amtsvorgänger bemüht, die Wunden, die in siebzehn Jahren Pinochetdiktatur geschlagen werden, zu lindern. Ein schweres Unterfangen. Die chilenische Gesellschaft ist zutiefst gespalten, fragmentiert und dazu teilweise traumatisiert. Und die Linke? Dezimiert, verfolgt in den Jahren der Generalsherrschaft. So manche ihrer einst führenden Vertreter sind mittlerweile im neoliberalen Mainstream untergetaucht oder stellen sich als unfähig heraus, gangbare Alternativen zu entwickeln.
2010, zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit von Spanien, möchte das Land Anschluß an die sogenannte Erste Welt gefunden haben. Manche Parameter lassen dieses Ziel – Ironie der Geschichte – realistisch erscheinen: Die Arbeitslosigkeit liegt bei neun Prozent, die Zahl der Geburten geht zurück. In punkto Korruption kommt Chile gleich nach Deutschland. Das brutale Regime des Generals Pinochet hat die einst mehrheitlich gesellschaftlich interessierten und engagierten Chilenen zu Konsumenten des neoliberalen Systems gemacht.
Und viele der Verlierer dieses gnadenlosen Konkurrenzkampfes haben ihr Scheitern verinnerlicht. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen macht drei markante Haltungen innerhalb der chilenischen Gesellschaft aus: der »stolze Chilene«, der sich über die tradierten Gepflogenheiten und die Geschichte seines Landes definiert. Er ist im Schnitt Mitte fünfzig. Ein Drittel der Chilenen zählt zu ihnen. 38 Prozent fällt es indes schwer, sich als Chilenen zu betrachten. Sie fühlen sich ihrer Geschichte beraubt, sind unsicher und enttäuscht. Das sind mehrheitlich Mittelstandschilenen. Und schließlich das Drittel, das sich als Verlierer ansieht. Es ist der roto, der ewige Zaungast der Gesellschaft. Allende wollte ihn etwas mehr in die Mitte holen.
Auch wenn sich der Anteil der Ärmsten im letzten Jahrzehnt verringert hat, so verfügen noch immer zehn Prozent der Reichsten über 41 Prozent der Einkommen. Was wird mit den Opfern der Menschenrechtsverletzungen, die mit dem elften September 1973 in dem südamerikanischen Land einsetzten? Spanien brauchte sechzig Jahre, um die Ermordeten des Franco-Regimes zu exhumieren und würdig zu bestatten. Noch suchen in Chile Mütter, Väter und Kinder nach den Ihren, die Pinochets Schergen in die Hände fielen.
Elfter September 1973. Am Nachmittag. Santiago und Umgebung werden von einem leichten Erdbeben erschüttert. Vor der DDR-Botschaft sind Carabineros, schwer bewaffnete Polizei, aufgezogen. Finstere Bauernburschen aus dem tiefsten Süden Chiles, die jeden Annäherungsversuch brüsk abwehren sollen. Hätten sie gewußt, wer in den nächsten Tagen diesen exterritorialen Boden betreten würde, hätten sie ihren Dienst am zweistöckigen Villenbau wahrscheinlich ernster genommen. Die Nummer Eins auf der Fahndungsliste der Militärs, fieberhaft gesucht, gelangte von ihnen unbemerkt in die diplomatische Dependance der DDR: Carlos Altamirano, Generalsekretär der Sozialistischen Partei, der Partei Allendes. Wenige Tage zuvor noch hatte Altamirano in Valparaiso Marinesoldaten zur Insubordination aufgerufen. Ein Robespierre der Unidad Popular. Am elften September 1973 steht er ohne Bleibe da. Wochen später kommt ein Professor aus Leipzig mit bundesrepublikanischem Paß und US-amerikanischem Auto und fährt den Mann der geste révolutionnaire über die Anden ins benachbarte Argentinien. Einige Männer Mielkes geben Begleitschutz. Altamirano ist nicht der einzige, der so gerettet wird.