Des Blättchens 6. Jahrgang (VI), Berlin, 21. Juli 2003, Heft 15

Probleme der Kolonialisierung

von Martin Schirdewan

Die IG Metall kämpfte vier Wochen lang in den neuen Bundesländern um die Einführung der 35-Stunden-Woche. Erfolglos. Der Vorsitzende der IG Metall, Klaus Zwickel, schlug die Einstellung der Streiks vor. Sein designierter Nachfolger, Jürgen Peters, und der Streikleiter und Bezirksvorsitzende, Hasso Düvel, äußerten sich übereinstimmend. Erstmals seit 1954 verliert eine organisierte Interessenvertretung der Arbeitnehmer einen Arbeitskampf. Daß sich diese Niederlage in den fünf neuen Ländern ereignete, kann nicht verwundern.
Mit Eröffnung des Streiks begannen sowohl öffentlich-rechtliche als auch private Medien, der Bevölkerung zu erklären, daß die Forderungen der Gewerkschafter der reinste ökonomische Unsinn seien. Private Medienanstalten, als Konzerne organisiert, haben ein natürliches Interesse, die Positionen der Arbeitgeber darzustellen. Es sind ihre eigenen.
Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, aus der Länder oder des Bundes Schoß hervorgekrochen, werden in einer zugegeben angespannten ökonomischen Lage nicht gegen die Interessen der vorherrschenden Politik agieren. Aufklärung hin oder her, es herrscht der Neoliberalismus.
Erstes und fast einziges Argument: die vergleichsweise längere Arbeitszeit der Arbeitnehmer in den neuen Ländern bedeute einen Standortvorteil, nämlich real niedrigere Löhne, die angeblich zu mehr Investitionen führten, die wiederum die Schaffung neuer Arbeitsplätze nach sich zögen. So weit die Theorie. Nach dreizehn Jahren spricht allein schon die Statistik eine andere Sprache. Die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern ist im Vergleich zu den alten nach wie vor doppelt so hoch. Bei einer gleichzeitigen Abwanderung von zirka zwei Millionen – in erster Linie junger und arbeitswilliger – Ostdeutscher. Kein Kommentar.
Der Osten Deutschlands ist dauerhaft zu einer Existenz als Niedriglohnland verurteilt. Von wem? Während der Streikwochen drohten die Arbeitgeber, ihre Produktion aus dem östlichen Neufünfland in den noch ferneren Osten zu verlagern. Die Arbeitskräfte dort seien schließlich billig zu haben, was in den neuen Ländern nach einer eventuellen Einführung der 35-Stunden-Woche nicht mehr der Fall sei.
Worauf diese Drohungen abzielen, ist eindeutig: Der Faktor Arbeit soll durch Erpressung gefügig gemacht werden. Gefügig in dem Sinne, daß die Arbeitnehmer auf eine organisierte Interessenvertretung verzichten. Sie sollen entrechtet werden. Weshalb aber gelten die Interessen einer gesellschaftlichen Minderheit um Manager und Aktionäre als Allgemeinwohl? Hier spricht die gesamte Vereinigungsgeschichte für sich.
Das Ergebnis der Niederlage der Gewerkschaft läßt sich nicht nur auf die Nichteinführung der 35-Stunden-Woche beschränken. Die Macht der Gewerkschaften ist an ihre Grenze gestoßen. Nicht nur im Kampf mit den Arbeitgebern. Medienvasallen erzeugen in der Öffentlichkeit ein Bild der Unangemessenheit gewerkschaftlicher Forderungen, die gesellschaftliche Stimmung wendet sich gegen die Arbeitnehmerschaft. Der Sieg der Arbeitgeber bedeutet, daß die neuen Länder branchenübergreifend langfristig ein Niedriglohnland bleiben.
Es wird zu keiner Angleichung der Lohn- und damit der Lebensverhältnisse in Deutschland kommen. Der Osten bleibt abgekoppelt. Die fortschreitende Entrechtung der Arbeiter setzt diese in verschärfter Form der Willkür ökonomischer Interessen aus. Warum nicht eine 45-Stunden-Woche?
Die Schwäche des gewerkschaftlichen Arbeitskampfes 2003 wird Konsequenzen für die organisierte Interessenvertretung der Arbeitnehmer haben. Der Flächentarifvertrag, in den neuen Ländern durch Öffnungsklauseln, Haustarife und Härtefallregelungen quasi schon aufgelöst, wird auch in den alten Ländern zur Disposition gestellt werden. Wer glaubt, diese Niederlage wirke sich nicht auf den Westen aus, der irrt.
Die Gewerkschaft und ihre Vordenker haben Fehler gemacht. Vielleicht war der Zeitpunkt schlecht gewählt, vielleicht die Streikkassen nicht ausreichend gefüllt. Doch konnte der mediale Propagandafeldzug der Arbeitgeber nur diese verheerende Stärke gewinnen, weil von seiten der Arbeitnehmer ein schlechtes Kommunikationsmanagement betrieben wurde. Mit einer langfristigen Kampagne die eigenen Reihen zu schließen und die Bevölkerung (Ost) auf den Arbeitskampf vorzubereiten – dessen hätte es bedurft. Dieser Arbeitskampf sollte als Bestandteil eines gesellschaftlichen Projektes, einer Reform, die diesen Namen noch verdient, verstanden werden. Es geht um nichts Geringeres als die Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland. Diese Chance wurde leichtsinnig vertan. Was bleibt, sind wenige zerknirschte Funktionäre und ein irreparabler langfristiger Schaden.
Aber: Solange sich das Produktiveigentum in den Händen nicht-ostdeutscher Unternehmen befindet, wer sollte da in den neuen Ländern investieren? Alles nur ein Kolonialisierungsproblem.