Des Blättchens 6. Jahrgang (VI), Berlin, 3. Februar 2003, Heft 3

Die große Lüge über den UN-Sicherheitsrat

von Kurt Merkel

Selbst konservative Verteidiger der USA räumen längst ein, daß es keine Verbindung zwischen den Kriegszielen der Amerikaner im Irak und dem Auftrag der UN-Inspekteure gibt. Die Absicht der USA, über eine Entfernung Saddam Husseins und eine militärische Besetzung des Iraks die Neuordnung der Region und des Ölweltmarktes in Gang zu bringen, ist seit langem bekannt. Eine Analyse der Situation und des amerikanischen Konzepts war zum Beispiel schon 1998 unter dem Titel Vor dem dritten Golfkrieg nachlesbar (von Siegwart-Horst Günther und Burchard Brentjes bei edition ost Berlin; 2002 als erweiterte Ausgabe).
Ebenso klar ist das Verdikt der Vereinten Nationen, mit dem die Okkupation Kuwaits durch den Irak verurteilt wurde. Im Ergebnis der Vertreibung der Iraker aus dem besetzten Land wurden ein Embargo und Exportbeschränkungen festgelegt sowie die genannten Waffeninspektionen eingesetzt. Dagegen hilft auch nicht das Wissen darum, daß Saddam mit seinem Einmarsch offenbar in eine ihm von den USA gestellte Falle getappt war – auch ein hereingefallener Eroberer ist ein zu verurteilender Eroberer.
Drittens schließlich ist spätestens seit dem ersten Krieg der USA gegen den Irak 1991 und der ersten Runde der Inspektionen bekannt, daß der Irak nicht in der Lage ist, den Weltfrieden zu bedrohen. Die jetzt laufenden Inspektionen bestätigen das nicht nur, sie belegen darüber hinaus, daß Saddam auch in der Region militärisch nicht agieren kann.
Dennoch wird die Fiktion aufrechterhalten, der Fall könnte eintreten, daß die »im Interesse des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit« erforderliche erfolgreiche Fortsetzung der Abrüstung des Iraks militärisch erzwungen werden müßte. Das behaupten die Amerikaner, unterstützt von den Briten, nur mehr so nebenhin, da ihre sehr viel weiterreichenden Ziele von dieser Kriegsbegründung ja beim besten Willen nicht gedeckt werden können. Das behaupten aber auch die europäischen Mächte, die zwar gegenwärtig sich gegen einen Krieg aussprechen, aber schon jetzt bereit sind, im Kriegsfall Hilfsdienste zu leisten und ihre umfassendere Teilnahme vorbereiten.
Die ideologische Begründung dafür steht schon bereit, es ist die These vom »bedingten Pazifismus«. Bei dem ersten besten Zwischenfall werden wir dann wieder, wie damals beim Kosovo-Krieg, hören: »Da kann man doch nicht zusehen!«, »Da muß doch die internationale Gemeinschaft eingreifen!« und schließlich, das wird schon heute gesagt: »Wenn es Krieg gibt, muß man mitmachen, um Schlimmeres zu vermeiden«. Obwohl die Amerikaner längst erklärt haben, für ihren Krieg keine Rechtfertigung durch die UNO zu benötigen, klammern sich die anderen an einen Beschluß des Sicherheitsrats.
Zur Klärung der Lage muß man sich die entsprechenden Dokumente ansehen. Da ist zunächst die Charta der Vereinten Nationen, die im Kapitel VII vom Sicherheitsrat zu ergreifende »Maßnahmen bei der Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen« festlegt. Alle seine diesbezüglichen Resolutionen sind also immer im Kontext dieses Kapitels der Charta zu lesen. Nachdem sich Artikel 41 mit Blockademaßnahmen befaßt hat, wie sie noch heute gegen den Irak wirksam sind, behandelt Artikel 42 unseren hier zur Untersuchung stehenden Fall:
»Ist der Sicherheitsrat der Auffassung, daß die in Artikel 41 vorgesehenen Maßnahmen unzulänglich sein würden oder sich als unzulänglich erwiesen haben, so kann er mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen. Sie können Demonstrationen, Blockaden oder sonstige Einsätze der Luft-, See- oder Landstreitkräfte von Mitgliedern der Vereinten Nationen einschließen.«
Der Sicherheitsrat selbst also agiert dann als Kriegsherr und kann in seine eigenen Maßnahmen militärische Aktionen von Mitgliedsstaaten einbeziehen. Es ist nicht davon die Rede, daß er diese Aktionen an Mitgliedsstaaten delegieren könnte. Die folgenden Artikel regeln daher, wie Staaten über Sonderabkommen mit dem Sicherheitsrat diesem Streitkräfte zur Verfügung stellen, die von einem Generalstabsausschuß befehligt werden. Um keinerlei Zweifel zuzulassen, heißt es dann im Artikel 46: »Die Pläne für die Anwendung von Waffengewalt werden vom Sicherheitsrat mit Unterstützung des Generalstabsausschusses aufgestellt.«
So wie der Sicherheitsrat noch nie in der Lage war, einen Generalstabsausschuß zu bilden und eigene Militäraktionen durchzuführen, tat er es auch nicht in bezug auf den Irak. Die Resolution 1441 vom 8. November 2002 beschloß daher auch keine militärische Aktion, sondern »ein verstärktes Inspektionsregime«, um »Irak mit dieser Resolution eine letzte Chance einzuräumen, seinen Abrüstungsverpflichtungen … nachzukommen.« Und die Resolution »erinnert … daran, daß der Rat Irak wiederholt vor ernsthaften Konsequenzen gewarnt hat, wenn Irak weiter gegen seine Verpflichtungen verstößt«.
Kein Zweifel, das ist eine ernste Warnung. Aber das ist kein Beschluß über militärische Aktionen, schon gar nicht eine Generalvollmacht für irgendeinen Staat, den Irak mit einem Krieg zu überziehen.
Nun beziehen sich die Vertreter einer anderen Interpretation aber gern auf folgende Passage in der Präambel der Resolution 1441:
»Der Sicherheitsrat … daran erinnernd, daß die Mitgliedsstaaten durch seine Resolution 678 (1990) ermächtigt wurden, alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um seiner Resolution 660 (1990) vom 2. August 1990 und allen nach Resolution 660 (1990) verabschiedeten einschlägigen Resolutionen Geltung zu verschaffen und sie durchzuführen und den Weltfrieden und die internationale Sicherheit in dem Gebiet wiederherzustellen …«
Dazu ist erstens festzuhalten, daß diese »Ermächtigung« nicht zur Durchsetzung der Abrüstungsverpflichtungen gewährt wurde, sondern zur Befreiung Kuwaits von der irakischen Besetzung. Sie ist daher auch nicht auf den Artikel 42 der Charta zu beziehen, sondern auf Artikel 51, der »im Falle eines bewaffneten Angriffs« das »naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung« bestätigt.
Zweitens darf nicht übersehen werden, daß selbst diese Selbstverteidigungsmaßnahmen gemäß Charta nur rechtens sind, »bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen« getroffen hat.
Drittens schließlich ist festzustellen, daß solche Erteilung einer Ermächtigung auch für militärische Aktionen von Mitgliedsstaaten durch den Sicherheitsrat in der Charta nicht vorgesehen ist. Selbst wenn man bereit ist, das Verhalten des Sicherheitsrats nach der Okkupation Kuwaits unter dem realistischen Gesichtspunkt zu betrachten, daß er unter den obwaltenden internationalen Umständen unfähig ist, einen Generalstabsausschuß zu bilden und selbst Militäraktionen gemäß der Charta durchzuführen: Ein Militärschlag gegen den Irak zur Erzwingung seiner Abrüstung ist nicht beschlossen worden, und der Sicherheitsrat hat kein Mandat, eine solche Ermächtigung zu erteilen.
Rechtlich, also völkerrechtlich, sollte es für keine Regierung ein Problem geben, unter den genannten Umständen ihre Position zu einem Krieg gegen den Irak festzulegen. Rechtlich. Das Problem liegt bekanntlich anderswo.