Des Blättchens 5. Jahrgang (V), Berlin, 24. Juni 2002, Heft 13

Meine Nostalgien

von Gerhard Zwerenz

Da sitzen wir nun mit unserem großen Wissen in Europa herum. Der Sack voller Erkenntnisse ist im Keller abgestellt. Die Welt hält sich nicht an die Fahrpläne. Manchmal, hols der Teufel, vermisse ich die DDR gerade, weil sie mich aussperrte. Im Westen lernte ich das Land, dem ich einst nur knapp entkam, zu schätzen. SU und DDR irgendwo im Rücken – damit ließ sich leben. Die Herren des Kapitals und ihre Wächter waren immer etwas ängstlich, das brachte sie zur Vernunft. Gehängt zu werden fürchteten sie wie ihre Vorgänger von Nürnberg im exekutionsunwilligen Landsberg. Die Sieger von 1945 sahen bald ein, die Chose geht nicht ohne deutsche Kameraden. Zwei Jahrzehnte lang durfte ich nicht über die volkseigene Grenze. Dafür gab’s Gründe. Ich setzte den Herren Genossen zu. Dachte, so eine einzelne Schreibmaschine kratzt die nicht. Als Mama schwer erkrankte und als sie es wenig später satt hatte und starb, waren wir zweimal drei Tage lang drüben bei den östlichen Disneys. Immer bestens von Geheimen bewacht, daß uns ja nichts zustieße. Sie führten Protokolle, verfertigten einen Fotoroman, da können wir heute darin blätternd, Reiseerinnerungen auffrischen, wenn wir wollen. Die Lektüre bestärkt das Gefühl der Exotik und des Verlustes.
Tatsache, die DDR fehlt mir, und je länger sie zurückliegt, desto mehr. Ich würde sie gern wiederhaben. Und die Grenze zu. Nur alle zwei Jahrzehnte mal für drei Tage nach drüben und dann wieder raus aus dem Pferch. Denn die schönen siebziger Jahre im Westen fehlen mir auch. Die würde ich genauso gerne zurückholen. Mit dem Schiß des Kapitals vor dem roten Osten. Mit der aufmüpfigen Kultur, den Hoffnungen auf Emanzipation, mit den Frauen der Studentenrevolten und sexuellen Libertinagen, mit Dutschkes Predigten und Cohn-Bendits Frechheiten, mit Joschka als Streetfighter statt als Ministerfreak, der bei Christiansen seine Vergangenheit abhustet als wär’s ne Grippe. Man hätte die munteren Revoluzzer beizeiten klonen sollen und den irrwitzigen F.J. Strauß dazu, einen Sack mit ner Milliarde drin nach Ostberlin schleppend zu Schalksnarr Golodkowski (oder so ähnlich) als Türöffner. Und keinem kam es in den Sinn, unsere tapferen Spezialeinheitskrisensoldaten nach Afghanistan zu schicken, wo damals noch die Sowjets die Birne hinhielten, bis unsere Fallschirmjäger dort heute endlich den Verkehr regeln dürfen.
Ach ja, ich bin wohl ein egoistischer Scheißnostalgiker und fühle mich auch noch wohl dabei. Mindestens deshalb, weil ich wenig Lust verspüre, wegen des Aberwitzes der Politiker Trauer zu tragen. Vergessen wir doch nicht: Die Politiker kommen und gehen, und wir sind das dumme Volk, das bleibt.
Soviel zu meinen nostalgischen Affekten, die siegreich zu überwinden ich neulich Die Intellektuellen von Werner Mittenzwei las, bei Faber& Faber in Leipzig erschienen, soeben mit 2. Auflage belohnt, der heimliche Seller des östlichen Untergrunds, den die mit der Walserei und den von der FDP gemachten Möllemännchen befaßten FAZ-Feuilletonangeber nicht wahrhaben wollen und nicht akzeptieren dürfen. Zum Beispiel Seite 259: »1956 hatte Georg Lukács im Petöfi-Club erklärt, er wage zu behaupten, daß die Lage des Marxismus in Ungarn heute schlimmer sei, als sie in der Horthy-Periode gewesen sei. In der DDR verhielt es sich ähnlich, hier im Vergleich zur Weimarer Republik. Der Stalinismus verengte den Marxismus auf formalisierte Grundsätze, schloß jede Weiterentwicklung durch andere geistige Strömungen aus. Die dialektische Methode, das Kernstück des Marxismus, wurde nur in ihrer ideologisch präparierten Aussage propagiert. So verlor der Marxismus seine Anziehungskraft. Aber zur gleichen Zeit, in der er als Pflichtlektüre verkam, wuchs bei einigen Intellektuellen die Neugier auf den unverfälschten Marxismus.«
Was aber, lieber Mittenzwei, ist der »unverfälschte Marxismus«? Und was wäre, nur als Beispiel, ein unverfälschtes Christentum? Träfen die sich nicht irgendwo? Eines darf als gesichert gelten: An die Macht dürfen weder Christen noch Marxisten kommen. Ihre Diktaturen führen in die Irre. Starke Positionen in pluralistischen Verbänden aber sind wünschenswert, gar notwendig.
Mittenzwei beruft sich auf Schumpeters 1942 erschienenes Werk Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, wonach das Kapital »nicht an seinen Krisen, sondern an seinen Erfolgen zugrunde gehen werde.« Aber: »… diese Erfolge sind die Niederlagen der Menschheit, die ein humanes Zusammenleben erstrebt.«
Mittenzwei gibt den besiegten linken Intellektuellen jene Ehre zurück, die ihnen die Sieger bestreiten. In den Köpfen der Besiegten tut sich endlich etwas. Ein informatives, spannendes, köstliches Buch ist das, keine leichte Lektüre.
Da heute so oft Nietzsche zitiert wird, sei an seine Werte-Umwertung erinnert. Täuschen wir uns nicht, wird man die Geschichte der DDR bald als kommunistische Tragödie mit tragikomischen Rändern empfinden. Der Aufstand gegen die Kapitalisierung von Leib und Seele wurde von 1917 bis 1989 immerhin geprobt.