Des Blättchens 4. Jahrgang (IV), Berlin, 11. Juni 2001, Heft 12

Schaut auf diese Stadt

von Wolfgang Sabath

Not mache, so behauptet es jedenfalls der sogenannte Volksmund, erfinderisch. Die Not, in die Berlins Kommunalisten die Hauptstadt gebracht haben, ist groß. Da kam Tagesspiegel-Redakteur Harald Martenstein auf die wahrhaft pfiffige Idee, Berlin wieder »in die Obhut der Vier Mächte« zu geben: »Wir haben dann wieder einen amerikanischen, einen französischen, einen britischen und einen russischen Sektor, wir haben vier tüchtige Stadtkommandanten sowie einen Regierenden Bürgermeister, deutsch, der aber zum Glück nicht viel zu melden hat.«
Doch das wird vermutlich alles nicht passieren. Passieren könnte hingegen, daß die Berliner in den nächsten Monaten – jedenfalls noch vor Ablauf der Legislaturperiode der derzeitig polithampelnden Interessen- und Schicksalsgemeinschaft aus CDU und SPD – aus den alten Senats-Dienstwagen neue Gesichter am Roten Rathaus steigen sehen. Die würden selbstverständlich, falls das angelaufene Volksbegehren in einen Volksentscheid und schließlich in Neuwahlen gemündet sein würde, allesamt behaupten, sie stellten alles besser und klüger als ihre Vorgänger an. Das Klappern gehört zum Handwerk, und vor Wahlen klappern sie alle besonders laut.
Nicht, daß mir Volksbegehren, Volksentscheide und ähnliche demokratische Ritualien per se nicht sympathisch wären, im Gegenteil. Nur frage ich mich in diesem konkreten Falle Berlins, was Neuwahlen eigentlich brächten, und ob sie nicht nur wieder mal Geld kosten würden: Denn die Schulden, die die Pleitiers mit Landowsky an der Spitze angehäuft haben, wären ja nicht verschwunden, wenn nun auf einmal ein PDS-Haushältler oder ein anderer neu ins Rathaus Gezogene für deren Abbau verantwortlich wären. Die Berliner können es eigentlich drehen und wenden wie sie wollen (und sie könnten eben auch wählen oder nicht wählen, wen sie wollen): Die Schulden bleiben. Ob also eines Tages rot, rot-rot, rot-grün, rot-rot-grün, rot-rot-grün-gelb (haben wir noch eine Kombination vergessen?): Die Berliner Schulen werden über Jahre hinaus weiter verrotten, das öffentliche Straßennetz verkommen, Sozialeinrichtungen dahinsiechen.
Aber vielleicht könnten die Hauptstädter – trotz der auch durch Neuwahlen nicht zu beseitigenden Schulden, die sie und niemand anderes werden tilgen müssen – aus Gründen der Polithygiene mit neuen Politikern besser leben. Gewiß, ein Sachargument ist das nicht. Aber Hygiene hat eben auch etwas mit Lebensqualität zu tun …
Dieser Tage hatte ich Gelegenheit, einer Art privater Märchenstunde teilhaftig zu werden. Ein mir nicht ganz unbekannter junger Berliner, Gymnasiast, 18 Jahre alt und in fast jeder Weise entsprechend (Eltern wissen, wovon ich rede …), kam von einer mehrtägigen Schüleraustauschfahrt aus Göteborg zurück; es handelte sich um zwei öffentliche, also miteinander vergleichbare Schulen, die da austauschten. Das Schwedische Märchen ging folgendermaßen: freies Schulessen (drei Gerichte), freie Straßenbahn-Tickets, eine Bibliothek mit Archiv, in jeder Klasse ein Fernseher, PCs überall, sauber. Das gute an der Fahrt: Der junge Mann, zurückgekehrt in seine verkeimte Penne, weiß nun, wie Schulen aussehen können – wenn das Öffentliche sozusagen Essential der Politik ist, und eben nicht dem Privaten Vorrang eingeräumt wird.
Nein, natürlich gibt es auch in – und neuerdings vermehrt bei – Berlin »schwedische« Schulen; just an dem Tag, als ich mir das skandinavische Märchen anhören durfte, vermeldeten die Hauptstadtzeitungen die Eröffnung eines Gymnasiums am See in Rangsdorf bei Berlin, natürlich privat, natürlich Schulgeld. Tagesschüler 800, Internatsschüler 2000 Mark monatlich. – Nu isser schon wieder beim Sozialneid gelandet.
Übrigens haben die Berliner Turbulenzen auch ihr gutes, ob nun gewählt werden wird oder nicht: Erstens machen sie endlich klar, daß die Stadt keinen Sonderstatus mehr hat. Den hatte sie, was Korruption, Filz und dergleichen angeht, eigentlich nie (Steglitzer Kreisel und anderes schon vergessen?), aber ihn immer behauptet; jetzt ist jedermann deutlich: Hier geht es so zu wie anderswo auch. Zweitens: Die Fingerhakeleien, wurden noch rechtzeitig im Preußenjahr publik, wegen der Tugenden und so.