Des Blättchens 3. Jahrgang (III), Berlin, 29. Mai 2000, Heft 11

Jugend ist anders

von Dietmar Wittich

Eigentlich sehen wir ziemlich alt aus. Wir hier in Deutschland werden immer älter, die Gesellschaft altert rapide. Das hängt einerseits mit dem »Pillenknick« zusammen, der zu einem permanenten Geburtenrückgang führte. Andererseits steigt ständig die Lebenserwartung. Heute geborene Mädchen können im Durchschnitt darauf rechnen, daß sie 80 Jahre alt werden, Jungs können sich auf 74 Jahre freuen. Jugend gerät immer mehr zur Rarität. Das steht in groteskem Gegensatz zum allgemeinen Jugendwahn, der allenthalben durch die Medien und die schöne, heile Werbewelt geistert.
Wenn es um die Jugend geht, sind die Klischees schnell bei der Hand. Entweder sind die Haare zu lang, oder sie sind zu kurz. Die Jugend ist oberflächlich, unordentlich und wenig fleißig. Immer neue »Generationen« werden erfunden, die »hedonistische«, die »orientierungslose«, die »politikverdrossene« und so weiter. Unterstellt wird eine die ganze Altersgruppe erfassende Dekadenz. Damit stünde der Niedergang der Zivilisation bevor. So geht das nun schon seit mehreren Jahrhunderten.
Alle das sind Klischees. Das belegt mit reichhaltigem Material auch die kürzlich vorgelegte Studie Jugend 2000. Es ist die 13. ihrer Art. Mit der finanzkräftigen Deutschen Shell AG als Sponsor im Rücken läßt sich einerseits komfortabel teure empirische Sozialforschung betreiben. Andererseits steht ein solches Vorhaben von vornherein im Spannungsfeld sehr unterschiedlicher Interessen. Da sind zuerst die Erwartungen des Geldgebers, der den Unternehmensnamen mit einem allgemein akzeptierten Ergebnis schmücken möchte, er möchte sein Gutmenschentum nicht nur mit dem Akt demonstrieren, sondern will es auch anerkannt wissen. Da ist weiterhin die Bundesregierung, die repräsentiert durch die vom Bundesinnenministerium beaufsichtigte Bundesanstalt für Politische Bildung durchaus nicht so sehr im Hintergrund dabei ist, wie diesmal der Text unterstellt; hier wird auf Bestätigung gehofft, daß die Regierenden gut für die Zukunft sorgen.
Da ist auch die Gilde der professionellen Meinungsmacher, die für folgende Klischeeproduktionen mit Material rechnen, von dem sie sich bei Bedarf wie aus einem Steinbruch bedienen können. Die zivilgesellschaftlichen Strukturen der freien Träger von Jugendarbeit, denen es angesichts leerer öffentlicher Kassen immer mehr an die Existenz geht, erwarten eine Bestätigung ihrer Daseinsberechtigung und beeinflussen zugleich mit ihrem kleinräumigen Agieren die Bewertung. Und schließlich gibt es ja auch noch die jungen Leute selbst in diesem Lande, die sicher nicht zu Tausenden die beiden Bände lesen werden, aber doch mitbekommen, ob sie sich mit ihren Lebensbildern wiederfinden können, oder ob ihnen das Ganze am A… vorbei geht.
Diesem Spannungsfeld von Interessen können sich die Akteurinnen und Akteure eines solchen Unternehmens nicht entziehen, sie haben es aber erfolgreich vermieden, sich dem auszuliefern. Das ist ihnen vor allem dadurch gelungen, daß sie sich konzeptionell intensiv auf ihren Gegenstand eingelassen haben. Sie folgen in ihrem Vorgehen den Sichtweisen der Jugendlichen selbst, Schwerpunkte der Studie sind Lebensgeschichten und Lebensplanungen sowie die Differenziertheit innerhalb der jungen Generation.
Die Wissenschaftler hatten die Möglichkeit, eine Vielfalt von Untersuchungsmethoden einzusetzen. Sie verbanden biographische Porträts von 32 jungen Frauen und Männern (deren Material den ganzen zweiten Band füllt),Intensivgespräche und Gruppendiskussionen miteinander. Und sie konnten sich eine Vorstudie mit 734 Interviews leisten und damit die Instrumentarien für die repräsentative Befragung von 4546 jungen Menschen testen. Mit einer Zusatzstichprobe von 648 Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft wurden erstmals nicht nur deutsche Jugendliche sondern Jugendliche in Deutschland zum Gegenstand gemacht.
Das Ergebnis ist eine sehr solide Momentaufnahme. Der Text ist gut lesbar und wird in einer bescheidenen und doch schönen Ausstattung der beiden Bücher präsentiert.
Wir wissen nun wieder, Jugend ist eben nicht gleich Jugend, und alle Sprüche, die anfangen »Die Jugend von heute …«, sind falsch. Immer weniger junge Menschen sollen mit ihrer Lebensarbeit die Grundlage dafür schaffen, daß immer mehr alte auch in Zukunft auskömmliche Renten erhalten können. Die junge Generation, so ein Ergebnis der Studie, läßt sich skeptisch-optimistisch darauf ein. Doch die Studie signalisiert Widersprüche: Einerseits sind Jugendliche stark auf Beruf und Familie orientiert, andererseits gehören die Schwierigkeiten, überhaupt erst einmal in das Berufsleben einsteigen zu können, zu ihren Grunderfahrungen. Und schon bei der nächsten Drehung des Generationenkarussells wird die Familienorientierung von immer mehr jungen Menschen nicht mehr eingelöst. Das führt wiederum zu Geburtenrückgang und gefährdet den »Generationenvertrag«.
Welche Lebensplanungen und -entwürfe und welche Werteskala sich in solchen Zukunftsängsten ballen, harrt dringend der Untersuchung. Gebraucht wird aber auch eine solide Studie zum Gebär- und Zeugungsverhalten beziehungsweise zur Zeugungsverweigerung.