Des Blättchens 3. Jahrgang (III), Berlin, 7. Februar 2000, Heft 3

… hat immer noch recht

von Wolfgang Sabath

Es ist schon wie ein Ritual: Fast immer, wenn es politische Ereignisse oder Umstände gebieten, daß der PDS-Vorsitzende Bisky oder ein anderer aus dem sogenannten Reformflügel des Vorstandes zu einer Meinungsäußerung ansetzt, scheinen etatmäßige Kritiker aus den eigenen Reihen die gespitzten Federkiele schon bereitzuhalten. Anders nämlich kann ich es mir kaum erklären, daß deren regelmäßige Repliken meist schon vierundzwanzig Stunden später in den Leserbriefspalten des Neuen Deutschlands auftauchen. Dagegen ist nichts einzuwenden, Disput und Differenz beleben das Geschäft.
Neulich erst, die CDU-»Spenden-Affäre« war gerade am Hochkochen und Fernsehen so spannend, wie das DDR-Fernsehen in seiner Endzeit – jeden Abend eine neue Enthüllung –, schaffte es Bisky wieder einmal, mit seiner Meinung Unmut aus den eigenen Reihen auf sich zu lenken.
Er äußerte nämlich, in der DDR hätte ein derartiger Skandal wie der jetzige um Kohl & Co. niemals debattiert werden können, öffentlich schon gar nicht: »Daß jetzt alles so konsequent rauskommt und aufgedeckt wird, wäre in der DDR nicht möglich gewesen.«
Postwendend die Leserbriefe. Der Ironiker Hermann Kant: »Wie wahr, Lothar! Nicht mal die Leuna-Werke hätte dieser Krenz verkauft!« Und Ellen Brombacher von der Kommunistischen Plattform der PDS, einst Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin – nach heutiger Diktion müßte es wohl Sekretärin heißen, aber das könnte zu Mißverständnissen bei Altbundesbürgern führen, die dann womöglich annähmen, es habe sich dabei nur um eine Schreibkraft der SED gehandelt – merkte an, was den »Parlamentarismus substanziell« gefährde, könne »nicht Ausdruck seiner Stärke« sein.
Woher der Schriftsteller und die Sekretärin ihre Gewißheiten nehmen, ist mir unerfindlich. Schließlich hatten DDR-Verantwortliche vor allem in den letzten Jahren ihres Politdaseins, als dem Land ökonomisch gesehen das Wasser Oberkante-Unterlippe stand, bereits damit begonnen, für Devisen die merkwürdigsten Sachen zu verscherbeln, Stichwort: Pflastersteine.
Darum halte ich es für denkbar, daß Egon Krenz auch die Leuna-Werke zur Disposition gestellt hätte – wenn das Politbüro und er zu der Ansicht gelangt wären, dieses geschähe zum Wohle der DDR; zwar wäre Leuna dann vermutlich nicht schnöde »verkauft« worden, aber die Erfindung einer Wirtschaftssonderzone Leuna hätte es womöglich auch getan …
Gut, das alles können wir nun nie mehr klären. Auch deshalb können wir ja jetzt allesamt so munter drauflos mutmaßen. Doch die Leichtfertigkeit, mit der Hermann Kant und Ellen Brombacher in ihren Bisky-Leserbriefen die Verfaßtheit dieser Bundesrepublik bedenken, will ich nicht unwidersprochen lassen.
Selbstverständlich ist von Arbeitslosen oder Sozialhilfeempfängern kaum zu erwarten, Demokratie als einen Wert an sich zu akzeptieren; von jemandem, der in der Suppenküche ansteht, sollte das auch nicht verlangt werden. Und es ist um so weniger zu verlangen, als jetzt hierzulande geradezu stündlich erlebt wird, daß insbesondere jene, die seit Jahrzehnten die große Demokratieglocke schwingen und die parlamentarische Trommel rühren, nicht Demokratie meinten, sondern ihre Brieftaschen und die Konten ihrer Parteien.
Alles zugestanden. Aber daß sich jetzt ausgerechnet auch solche Demokratiekritiker hämisch zu Worte melden, die zu ihrer Zeit jegliche Kritik – an sich oder an »der Partei« – heftig abblockten und, selbstredend in unterschiedlichem Maße, ihren jeweiligen Einfluß gegen Kritik verschiedenster Art zu gebrauchen wußten, macht mich denn doch einigermaßen mürrisch. Und hilflos. Außerdem verwundert es mich. Denn ich verstehe ihren Mangel an Bescheidenheit nicht.
Natürlich ist Bescheidenheit eigentlich eine untaugliche und ziemlich lächerliche Kategorie. Dennoch wünschte ich, daß wir alle, die wir vor zehn Jahren aus den Tempeln gejagt wurden, mehr darüber nachdächten, warum uns solches widerfahren ist. Fein sind nur die raus, die sich nie auf nichts eingelassen und Sozialismus hatten Sozialismus sein lassen. »Alles zum Wohle des Volkes!« – und dann von ebenjenem in die Wüste geschickt: Sollte uns das nicht wenigstens peinlich sein?
Hermann Kant hat in der Wende als einen Hauptgrund für die Feindseligkeit, mit der die Alt-BRD vierzig Jahre lang die DDR bedacht hatte, in das sehr treffende Bild gesetzt: »Wir haben uns den anderen weggenommen.« Und das haben sie uns natürlich, bis heute, nicht vergessen. Doch Kant übersieht, daß es genügend Leute gab, die allerlei und ausreichend Gründe hatten, sich auch ihm wegzunehmen. Und Ellen Brombacher.
Jeder von uns, der auf dieses Land DDR gehofft und in ihm und an ihm mitgetan hatte – und dafür hatte es schließlich tausenderlei anständige Gründe gegeben! –, könnte Menschen finden, die sich ihm weggenommen haben. Und die heute diese Chance weidlich nutzen. Auch ich, obwohl damals zur Revolution getragen, habe mich schließlich welchen weggenommen. Das genieße ich nun.
Natürlich weiß ich auch um die neuen Zwänge und bin – hier vermutlich mit den Brombachers und Kants einig – davon überzeugt, daß wir längst nicht am Ende der Geschichte angelangt sind. Aber ob die »Summe der Repressionen« wirklich »immer gleich« bleibt, wie eine ostdeutsche Journalistin vor etlichen Monaten befand, bedürfte denn doch eingehenderer Analyse. Denn allein schon der Umstand, daß H.K. und E.B. – und all die anderen – ihrem Parteichef jetzt risikolos öffentlich widersprechen können, müßte sie doch den derzeit herrschenden Zuständen wenigstens etwas abgewinnen lassen.
Ich jedenfalls freue mich darüber, daß es jetzt kein SED-ZK mehr mit einem Kurt Hager gibt, bei der sich der Bücher- und Leserbriefschreiber K. über diesen Artikel hier beschweren könnte und demzufolge keine Konsequenzen für das Blättchen zu befürchten sind; und ich freue mich aufrichtig, daß eine Ellen Brombacher auf die Kommunistische Plattform der PDS zurückgeworfen ist und nie mehr kraft einer ideologischen Wassersuppe wird das Programm des Kabaretts Die Distel zensieren oder mit einer institutionalisierten Partei-Besserwisserei Künstler nerven dürfen.
Sollen sie weiterhin also Leserbriefe schreiben. Die tun niemandem weh. Höchstens Bisky. Aber das ist ja nun wirklich nicht unser Ding.