Das Blättchen, 2. Jahrgang (II), Berlin, 18. Oktober 1999, Heft 21

Das Syndrom

von Arndt Hopfmann

Das Alternativlosigkeitssyndrom – von »there is no alternative« (kurz: t.i.n.a.) – hat in deutschen Landen, Ost wie West, eine erstaunliche (Nachkriegs-)Geschichte. Im Osten gab es angesichts der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges kaum eine realistische Alternative zur Übernahme des sowjetischen Gesellschaftsmodells, das später als »Sozialismus, wie er real existiert«, verklärt und in verhängnisvoller Weise gegen alle Reformversuche immunisiert wurde – mit letztlich selbstzerstörerischer Konsequenz, wie wir heute wissen. Im Westen sah Adenauer keine andere Chance, als sich des halben Deutschlands ganz zu bemächtigen, und Ludwig Erhard kam – auch infolge der Konkurrenzsituation zur DDR – nicht umhin, ein marktwirtschaftliches System zu entwerfen, das für kapitalistische Verhältnisse bemerkenswert sozial ausgerichtet war.
Später dann gab es offenbar 16 lange Jahre keine Alternative zu Helmut Kohl, der – unter Bruch seines wichtigsten Wahlversprechens, nämlich die sozialdemokratische Schuldenmacherei zu beenden – eine kreditfinanzierte Konjunkturpolitik organisierte. Und der zusammen mit seinen gleichfalls neoliberal inspirierten Glaubensbrüdern – und einer nicht unmaßgeblichen Glaubensschwester – die Europäische Union in eine »Liberalisierungsgemeinschaft« verwandelte. Damals trat unter dem Decknamen Globalisierung der Sachzwang Weltmarkt als vorerst höchstes Stadium der Verohnmächtigung von Politik ins Alltagsleben.
Aber anno 1998 wurde sie dann doch an die Macht gewählt, die sozial-ökologische Alternative, so schien es jedenfalls. Denn was da als neue Mitte daherkam, entpuppte sich schnell als neue Alternativlosigkeit. Ob Scharping und Fischer in bezug auf den Kosovo, ob Eichel und Riester in bezug auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik, ob Schröder in bezug auf seine Person – nirgends gab es Alternativen. Der Erste, der dies leidvoll erfahren mußte, war Oskar Lafontaine, der heute als irgend so ein Schriftsteller diffamiert und beflissentlich ignoriert wird.
Rot-grün als Alternativprojekt befindet sich bereits nach wenigen Monaten im freien Fall in der Wählergunst. Offenbar »driven by instinct« – wie es bezeichnenderweise in einem Werbeslogan eines großen, gehätschelten Autokonzerns heißt – ist der Schröder-Regierung in beispiellos kurzer Zeit das schier Unglaubliche gelungen: auch noch die geringsten Reformhoffnungen, die in sie gesetzt wurden, zu enttäuschen. Nicht nur das Bündnis für Arbeit steht in den Sternen, auch der Atomausstieg kommt nicht voran, vom Skandal um das von »rot-grün« inszenierte Scheitern der Altautoverordnung in der Europäischen Union ganz zu schweigen. Ausgerechnet eine in sozialdemokratisch-ökologischer Verpackung verkaufte Politik wendet sich explizit gegen die sozial Schwachen – Rentner und Arbeitslose zuvorderst.
All dies wird zwar mit der Geste der Alternativlosigkeit und fragwürdigen Argumenten präsentiert, ist aber eher einfallslos. Wie Michael Heine und Hansjörg Herr im ausgesprochen lesenswerten September-Heft von PROKLA (Nr. 116) aufzeigen, ist keine der kürzlich von Blair und Schröder offerierten wirtschaftspolitischen Ideen jünger als 100 Jahre. Die ihnen zugrundeliegende primitive Version der Neoklassik hat bereits in den sechziger Jahren einen völligen theoretischen Schiffbruch erlitten. Obwohl das grandiose Scheitern des aktuellen Konzepts also absehbar ist, wird die Haushaltskonsolidierung – das Sparen um jeden Preis – zum Politikzweck schlechthin, als eine quasi Naturnotwendigkeit, inszeniert, während gleichzeitig allen Überlegungen, den Staatshaushalt auch über die Einnahmeseite auszugleichen, brüsk eine vermeintlich alternativlose Abfuhr erteilt wird. Steuergeschenke an die Großunternehmen statt Wiedereinführung der Vermögenssteuer heißt die neue Ausweglosigkeit!
Aber wie lange noch? Mitunter brechen sich vermeintlich nicht vorhandene Alternativen recht unerwartet Bahn. Den einst hoffnungsfrohen Wählern ist inzwischen längst aufgegangen, daß sie statt der erhofften »Reformkoalition« einer – sowohl globalisierungsergebenen als auch innovationsfeindlichen – »Standortkoalition« an die Regierung verholfen haben. Und die Quittung per Stimmzettel folgte neulich bei den Landtagswahlen auf dem Fuße. Das hat zwar noch nicht zu erkennbaren Alternativen geführt – CDU-Alleinregierungen sind nun wahrlich kein Fortschritt –, aber in der Luft liegen sie allemal.