Als die deutschen Bevollmächtigten am 28. Juni 1919 ihre Unterschrift unter den Versailler Friedensvertrag setzten, verpflichteten sie sich auch, die deutschen Kriegsverbrecher zu bestrafen. Doch ein „Nürnberg“ gab es nach diesem ersten Weltkrieg nicht. Denn während die Siegermächte entschieden auf den anderen Forderungen bestanden – Gebietsabtretungen, Reparationen, Abrüstungen –, verzichteten sie darauf, daß Teil VII des Versailler Friedens verwirklicht wurde; in keinem der imperialistischen Länder, die am Krieg beteiligt gewesen waren, hatte die herrschende Klasse ein Interesse daran, die Bedingungen zu untersuchen, die zum Krieg geführt hatten.
Vor dieser Entwicklung hatten deutsche Pazifisten schon vor Abschluß des Friedensvertrages gewarnt. Nach vier Jahren systematischer Desinformation der deutschen Öffentlichkeit hielten sie nichts für so notwendig wie dies eine: endlich die Wahrheit zu erkunden und die Wahrheit zu sagen. Pazifisten wie viele andere linke Intellektuelle sahen die Abrechnung mit den Schuldigen als eine der wichtigsten Aufgaben der Revolution. Siegfried Jacobsohn, der Herausgeber der Weltbühne, teilte diese Meinung. Jetzt, da endlich die Zeit der offiziell verordneten Lüge vorbei war, formulierte er drei Fragen, „die heute für das betrogene Deutschland die wichtigsten sind: Wer trägt die Schuld am Ausbruch des Krieges, an der Verlängerung des Krieges, am Ausgang des Krieges?“
„Die verruchte Lüge“ war der Titel eines Beitrages, den die Weltbühne im Januar 1919 brachte, er hätte über einer ganzen Serie von Überlegungen stehen können, die sich mit der Schuld Deutschlands am Kriege befaßten – mit der Schuld der Militärs und der Presse, mit dem Anteil von Regierung, Pädagogen, Alldeutschen. Das Spektrum war weit. Die linksbürgerlichen Autoren des Blattes, allen voran Siegfried Jacobsohn, Kurt Tucholsky, Alfons Goldschmidt, zogen die Bilanz des Krieges, um jenen Bürger zu neuen Erkenntnissen zu führen, der bis zuletzt glaubte, daß Deutschland sich gegen eine zu seiner Vernichtung entschlossene Welt verteidigen müsse, der sich schon als Sieger gesehen hatte und nun fassungslos vor der Niederlage stand. Er sollte lernen, das Gespinst aus Lüge, Vertuschung, halben Wahrheiten zu durchschauen, das Regierung und Oberste Heeresleitung ausgebreitet hatten. Jacobsohn zitiert Schopenhauer: „Einen von einem Irrtum befreien, heißt nicht, ihm etwas nehmen, sondern geben: denn die Erkenntnis, daß etwas falsch sei, ist eben eine Wahrheit.“
In mehreren Folgen entlarvt Kürt Tucholsky (als Ignaz Wrobel) das Militär*, das nach der offiziellen Propaganda als die Wiege aller Tugenden galt: Er schildert, wie Offiziere die Mannschaften behandelten, wie sie requirierten und schoben, wie sie die Bevölkerung in den besetzten Gebieten arrogant schikanierten. Einige der wenigen Offiziere, die mit dem alten Regime gebrochen hatten, der Kapitän zur See Lothar Persius** vor allem, untersuchten im Blatt die militärischen Ursachen der Niederlage, Diplomaten die Vorgeschichte des Krieges, wobei sie vor allem die (tatsächlich so nicht vorhandene) Friedensbereitschaft der Entente-Staaten betonten. Ihr Ziel war es, „den Deutschen in den Schädel zu hämmern, daß wir den Krieg politisch und diplomatisch und wirtschaftlich und militärisch verloren haben, und daß ein entgeistigendes und entwürdigendes militaristisches Regime den Hauptteil der Schuld daran trägt“.
Jacobsohn sah sehr wohl, daß nicht nur die deutsche Regierung den Krieg verschuldet hatte, seiner Meinung nach aber sollte das nicht das Thema der Deutschen sein. Er fragte sie vielmehr, „wollen wir nicht bei uns anfangen“, nach Schuldigen zu suchen? „Es wäre eine Tat gewesen, ein einziges Mal vor der ganzen Welt zu erklären: ,Unsre alte Regierung hat uns in den Krieg getrieben. Sie war mitschuldig. Wir wenden uns von dieser Regierung ab. Wir sperren die Hauptschuldigen ein. Wir haben nichts mehr mit ihnen zu schaffen. Wir wenden uns ab, wir wenden uns ab, wir wenden uns ab!‘“
Je länger der Krieg gedauert hatte, um so mehr glaubte Jacobsohn ersticken zu müssen an der offiziell verordneten Lüge, an den ihn täglich bedrückenden Zensurverordnungen. Nun war es ihm nahezu ein körperliches Bedürfnis, endlich die Wahrheit sagen zu dürfen, seine Wahrheit, so begrenzt sie auch immer sein mochte. „Wir müssen Flagellanten sein“, hatte der nüchterne Analytiker Alfons Goldschmidt geschrieben, „wir müssen die Lust der Reinigung empfinden. Nur ein Volk, das sich selbst gesäubert hat, steht makellos und mächtig da in der Welt.“
Wie zu erwarten, stieß die Forderung nach schonungsloser Wahrheit über die eigene Vergangenheit keineswegs auf allgemeine Gegenliebe. Schon gar nicht bei den Unternehmern, die am Krieg verdient hatten und nun fürchteten, enteignet zu werden. Nicht bei den Militärs, bei den rechten Verlegern, den Alldeutschen, auch nicht bei dem „guten Bürger“, der nicht bereit war, sich von seinen Illusionen zu verabschieden. Selbst die Sozialdemokratie war an dieser Abrechnung nicht interessiert, sie, die im Krieg für den Krieg gesprochen hatte und nun in der Regierung saß. Zudem war der Gedanke an eine Bestrafung von Kriegsverbrechern neu. Immer hatte der Besiegte zahlen müssen – und dann darauf gewartet, daß seine Stunde käme. Aber Bestrafung von Schuldigen? Gar mit dem Ziel, den Krieg zu ächten? Kriege hatte es immer gegeben. Und wollten nun tatsächlich Deutsche Deutsche verurteilen? Vor der ganzen Welt? Wem sollte das nützen?
„Daß es umzukehren gilt“, schrieb Jacobsohn, „die Schuld zu empfinden und einzugestehen, die Schuldigen zu bestrafen und von den Schurken … sich abzukehren: Keiner wills wahr haben; und heute, wie eh und je, gibt es Ehrenposten für diese Mörder. Hundert und aber hundert Male hat der herrliche Kraus, haben andre Schriftsteller … den Deutschen gepredigt, was hinter den kriegerischen Potemkin-Dörfern stecke – nichts da! Noch halten sie sämtliche alten Heiligtümer hoch, deren Anbetung uns ins Elend gebracht hat, und nicht ein einziges ist entwertet für sie.“
Statt dessen verfolgte die Reaktion mit wütendem Haß die Internationalisten und Pazifisten, die von deutscher Schuld sprachen und davon träumten, daß es eines baldigen Tages eine Welt ohne Krieg geben würde, sei es durch Schiedsgerichte und internationale Verträge oder durch den Sieg des Sozialismus. „Den Krieg aus der Welt zu schaffen“, so Jacobsohn, ist „für Menschen“ der wichtigste „Daseinszweck“, der „Lebensinhalt“. Die Revolution sollte diese neue Epoche einleiten, die Epoche des Friedens unter den Völkern, denn „die Zertrümmerung des Militarismus“ war für Autoren der Weltbühne wie für nicht wenige Revolutionäre „der Hauptsinn und Hauptzweck der Revolution“.
Mit Ingrimm sahen sie, wie weit sie von diesem Ziel entfernt waren. „Ludendorff sitzt im Adlon und liest Korrekturen – Rosa Luxemburg liegt auf dem Grunde des Landwehrkanals. In keinem andern Land der bewohnten Erde ist diese Rollenverteilung möglich“, schrieb Jacobsohn. Doch er und seine Autoren kämpften weiter, überzeugt von der Notwendigkeit ihres Kampfes. Sie wußten, daß es jetzt Zeit ist, die Wahrheit einzugestehen, „ganz gleichgültig, ob es uns schadet oder nicht. In einem höhern Sinne und auf längere geschichtliche Zeiträume angesehen, wird es uns nützen.“
So war es in der Weltbühne zu lesen. Die Wahrhaftigkeit dieser Behauptung bewies die Geschichte im Negativen. Das Volk, das nicht den Mut und die Kraft aufbrachte, mit seiner Vergangenheit abzurechnen, wurde verurteilt, sie noch einmal zu erleben. Die Ziele, die der deutsche Imperialismus im ersten Anlauf nicht erreichte, versuchte er im zweiten Weltkrieg zu verwirklichen. Das Ergebnis ist bekannt.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
* – Nachzulesen sind Tucholskys Militaria-Beiträge im Blättchen 8/2014 [1].
** – Die zehnteilige Serie von Persius „Der Seekrieg“ findet sich im Blättchen 16/2014 [2].