Die AfD ist im Aufwind – was hat sie zu bieten? Sicherlich ist es ein Mix aus vielem – sie versteht es, Emotionen wie Ängste, Frust, Wut zu kanalisieren und sich verfügbar zu machen, einfache Antworten auf komplexe Probleme zu geben und sich als Anti-Establishment-Partei zu inszenieren. Dass hinter alledem eine geschlossene Gesellschaftstheorie stünde – also ein umfassendes theoretisches Modell von Gesellschaft, wie es etwa der Marxismus oder der Liberalismus sind, ist nicht zu beobachten. Ebenso wenig, dass die Sympathisanten der Partei daran interessiert wären. Und verständlicherweise fallen auch führende Köpfe wie Alice Weidel oder Tino Chrupalla nicht durch geisteswissenschaftliche Traktate auf; Björn Höcke bildet da eine Ausnahme.
Den ideellen Hintergrund der AfD stellen nach wie vor Texte, Elaborate und Abhandlungen von Protagonisten der Neuen Rechten. Die verstehen sich jedoch nicht als „Parteitheoretiker“ wie weiland Karl Kautsky und Eduard Bernstein für die SPD, sondern verfolgen eher ein ideologisches und diskursives Projekt, das verschiedene ideelle Strömungen zusammenführt.
Der Kulturwissenschaftler Simon Brückner sprach mit einem Mitarbeiter der AfD-Bundestagsfraktion: Es habe immer wieder Vorstöße der Neuen Rechten gegeben, die linke Hegemonie an Universitäten und in einflussreichen Buchverlagen zu durchbrechen; richtig zuhause seien die Rechtsintellektuellen in der Gesellschaftstheorie aber nie gewesen. Nachfragend „wo denn sonst“? „In Literatur und Dichtung“!
„Wir müssen lesen“ verkündete denn auch Götz Kubitschek, Vordenker der Neuen Rechten, im November 2023: „… wir müssen einen Roman nach dem anderen, ein zentrales Werk nach dem anderen für uns vereinnahmen, aus rechter Sicht lesen und daraus das machen, was man eine Rückeroberung oder Reconquista an der Universität nennen sollte“. Die Neue Rechte als „Lesebewegung“. Zu diesem Zwecke wurde desgleichen im Herbst 2023 die „Aktion 451“ ins Leben gerufen, die Gründungen studentischer Lesekreise anstrebt. Benannt nach dem dystopischen Roman „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury (1953): „Die Fantasie von Fahrenheit 451 ist nun an der Universität Wirklichkeit geworden. Kritische Bücher und Gedanken sind verboten. Einheitsdenken verseucht die Hörsäle. Wir dagegen lesen ohne Scheuklappen. Und wir handeln. Denn den Pionieren des ,gefährlichen Denkens‘ gehört die Zukunft“, schreibt die anonym bleibende „Aktion 451“ auf ihrer Website.
Auf YouTube hat die Neue Rechte auch eine eigene Literatursendung: „Aufgeblättert. Zugeschlagen – Neue Rechte lesen“. Drei Personen sitzen bei einem Glas Wein vor einer Bücherwand und plaudern nett über aktuelle Lyrik und Prosa. Die Gesichter des Lesezirkels sind Ellen Kositza, Kubitscheks Ehefrau und die Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen. Es seien überhaupt auffällig viele Germanisten im Kreis der Neuen Rechten um Schnellroda – dem Wirkungsort Kubitscheks – aktiv …
Ein in diesen Zirkeln geschätzter Autor ist Rolf Schilling, ein raunender Dichter. Eine Kostprobe seines Werkes: Irminsul (Auszug)
„Nimm der Zeiten Garn und spul / Fäden, die die Norn nicht löst. / Ruf die Schläfer aus dem Pfuhl: / Wo sie dämmern, Traum-entblößt, / Schattet golden Irminsul, / Krone, die du spät erhöhst.“ („Norn“ meint ein weibliche Schicksalswesen in der nordischen Mythologie; „Irminsul“ – Große Säule – war ein Heiligtum der Sachsen, das 772 auf Veranlassung Karls des Großen zerstört wurde.)
Weniger lyrisch, jedoch rauschhaft kommt Kubitscheks eigenes gurgelndes Tremolo daher, der „Deutschsein“ sieht in der „Sehnsucht nach dem Totalen, nach dem Risslosen, nach Etzels Saal, nach dieser Treue bis in den Tod, die eben nicht ausweicht, um weiterzuleben, sondern stehenbleibt, bis es nicht mehr geht“. Botho Strauß fühlt ein Unbehaustsein in einer Gegenwart, die Veränderung als sinnhafte Fortentwicklung des jeweils Bestehenden versteht, und verharrt lieber romantisierend in der Vergangenheit: „Manchmal habe ich das Gefühl, nur bei den Ahnen noch unter Deutschen zu sein. Ja, es ist mir, als wäre ich der letzte Deutsche. Ein Strolch, ein in heiligen Resten wühlender Stadt-, Land- und Geiststreicher. Ein Obdachloser.“ Wir haben es also mit einer „Remythisierung unserer Lebenswelt“ (Klaus Dermutz) zu tun, mit einer „esoterischen Kommunikation“.
Damit nutzt die Neue Rechte Formen der Textproduktion und -lektüre, die die polit-rhetorische Strategie des dogwhistle – Nutzung einer Sprache, die je nach Publikum unterschiedlich verstanden wird, eine Form codierter Sprache – ins Literarische überträgt: Botschaften werden für „Wahrnehmungseliten“ so verschlüsselt, dass nur diese sie dechiffrieren und sich als Teil einer eingeschworenen Gemeinschaft wahrnehmen können. So kann eine Aussage eine in der Regel unverfängliche Bedeutung für nicht Eingeweihte haben, aber eine völlig andere für die eigenen Anhänger.
Was soll das Ganze? Was meint „Remythisierung unserer Lebenswelt“ oder „Esoterische Kommunikation“? Erstere will die Welt nicht mehr rational, aufklärerisch oder wissenschaftlich deuten, sondern sie mit mythischen Bildern, Geschichten und Symbolen aufladen. Dazu wird auf Mythen – „Norn“ an die Edda-Dichtung erinnernd, „Etzels Saal“ aus den Heldensagen, „Deutschsein“, aber auch „Volk“, „Heimat“ – als zeitlose unveränderliche „Wahrheiten“ zurückgegriffen. „Heimat“ beispielsweise ist nicht mehr der alltägliche Ort, an dem man lebt, sondern ein sakral aufgeladenes Ursprungsland. So soll und wird Identität gestiftet und werden Menschen emotional angesprochen; stärker als über nüchterne Argumente.
Gemeint ist auch keine Esoterik im populären Sinn der Horoskope und Räucherstäbchen, sondern eine Kommunikation, die mehrdeutig, geheimnisvoll – „raunend“ – und nur für Eingeweihte verständlich wirkt. Operiert wird mit Andeutungen, Codes, die Gruppenzugehörigkeit stiften: Wer die Codes versteht, gehört dazu; es wird ein Gemeinschaftsgefühl „Wir gegen die Anderen“ erzeugt. Schlag- ja regelrecht Totschlagworte wie „Überfremdung“, „Umvolkung“ oder „Remigration“ klingen auf einmal völlig plausibel – und harmlos.
Vernunftbasierte Debatten werden durch symbolisch-mythische Gerede ersetzt, das fast religiös-sakrale Züge trägt. Rational-aufklärerische Diskurse sind überprüfbar und widerlegbar; Emotionen, Irrationalität und Mythos entziehen sich der Kritik. Mythische Narrative wirken „natürlich“ und „ewig“ – sie lassen auf ihnen fußende politische Konzepte wie Schicksal erscheinen, nicht wie Ideologie.
Dieses sich Kaprizieren auf Literatur, Kultur, Sprache und Symbole ordnet sich ein in die metapolitische Strategie – „Gramsci von rechts“ –; basierend auf Antonio Gramscis Idee von der „kulturellen Hegemonie“: Politische Macht gründet erst wirklich dauerhaft auf vorpolitischen kulturellen Grundlagen. Rechtsintellektuelle wollen daher zunächst den „geistig-kulturellen Überbau“ dominieren, bevor es um konkrete Machtoptionen oder Wirtschaftsfragen geht. Kultur wird als Schlachtfeld gesehen, das tief in Alltagsleben, Medien und Identitäten hineinwirkt. Sprache, auch „Leitkultur“ gelten als Hebel, um Wahrnehmung und Akzeptanz für rechte Politik zu befördern.
In diesem Sinn hat Literatur und Kultur eine Stellvertreter-Funktion, um das ideelle Vakuum in der materiellen Sphäre zu überspielen: In Sachen Wirtschaft, Sozialstaat oder Globalisierung fehlt der Rechten in Deutschland eine konsistente Programmatik. Man bewegt sich zwischen marktradikalen, konservativ-ordoliberalen und sozialpatriotischen Strömungen. Da gibt es keine Einigkeit und auch kein kohärentes Gegenmodell zur neoliberalen Ordnung; was übrigens auf die Wirtschaftspolitik der AfD desgleichen zutrifft. Materielle Fragen sind riskant; sobald es konkret um Rentenpolitik oder Energiepreise geht, gerät man in Sachzwänge und müsste realistische, überprüfbare Lösungen anbieten. Das kulturelle Feld erlaubt dagegen eine permanente Opposition ohne „Durchrechnungen“ und Sachzwang-Politik.
Hinzukommt sicherlich eine Attraktivität des Intellektuell-Ästhetischen: Gerade für die „Vordenker“ im Schnellrodaer Milieu ist das Literarische ein Mittel der schmeichelhaften Selbststilisierung: Man grenzt sich von „billiger Parteipolitik“ ab und pflegt das Bild einer Elite, die über „tieferes Wissen“ verfügt. Kultur ist Distinktionsmittel.
Emotion, Mythos, Schicksal, Eliten und Herkunft; wie soll das zusammengehen? Diese irrationalen und diffusen Qualitäten machen eine kohärente Theoriebildung unmöglich; ganz zu schweigen von der (dazu noch) notwendigen Integration des „Materiellen“? Eine systematische rechte Gesellschaftstheorie scheiterte folglich an inneren Widersprüchen. Doch will man sie überhaupt? Die Rechte kann darauf verzichten, da sie gar keine Gesellschaft will, sondern eine Gemeinschaft.
(Siehe auch Blättchen 8/25 [1]: Gemeinschaft, Gesellschaft und der Wert der Erzählung)