Proliferation [Weiterverbreitung von Kernwaffen – G.M.] ist ansteckend. Es ist eine Sache, wenn Kanada, das an die amerikanische Nuklearmacht grenzt, Kernwaffen produzieren sollte, und eine andere, wenn dies Israel oder Indien tun, die beide in einer Region politischer Spannungen und Rivalitäten liegen und mit diesem Schritt fast unvermeidlich eine Kettenreaktion auslösen würden.
Curt Gasteyger, Die Verbreitung der Kernwaffen (1965)
[…] insgesamt zeigt die internationale Erfahrung, dass der Besitz von Atomwaffen die einzige mehr oder weniger zuverlässige Garantie gegen einen Angriff der USA ist. Allerdings ist der Weg zum Erwerb dieser Waffen für ein Land, das ihn eingeschlagen hat, aber noch nicht bis zum Ende gegangen ist, äußerst gefährlich.
Dmitri Trenin, Welche Rolle spielen Atomwaffen in den heutigen internationalen Beziehungen? (2025)
Vorbemerkungen: Die Auswirkungen einzelner Kernwaffenexplosionen auf städtische Siedlungsgebiete sind seit dem 6. und dem 9. August 1945 bekannt – zigtausende an Toten sofort und weitere zigtausende, nach mehr oder weniger langem Siechtum, später. Allein bis Ende 1945 waren in Hiroshima und Nagasaki mehr als 200.000 Todesopfer zu beklagen.
Heutige atomare Gefechtsköpfe auf strategischen Trägersystemen verfügen in der Regel über ein Vielfaches der Sprengkraft der damaligen Modelle.
Seit Anfang der 1980er Jahre ist durch Untersuchungen US-amerikanischer Wissenschaftler, deren Ergebnisse wenig später durch vergleichbare sowjetische bestätigt wurden, überdies bekannt, dass ein nuklearer Schlagabtausch zwischen den atomaren Supermächten mit hunderten, wenn nicht tausenden von Kernwaffenexplosionen eine Veränderung des Weltklimas – Stichwort: nuklearer Winter – nach sich ziehen könnte, die die natürlichen Existenzgrundlagen der menschlichen Zivilisation, wenn nicht höheren organischen Lebens überhaupt gefährden oder gar zerstören würde.
Ende der 2000er Jahre erarbeiteten US-amerikanische Wissenschaftler, die zum Teil bereits an den früheren Untersuchungen beteiligt gewesen waren, Erkenntnisse darüber, dass bereits ein regional begrenzter Nuklearkrieg – zwischen Indien und Pakistan, mit 100 Kernwaffenexplosionen von jeweils Hiroshima-Stärke (15 Kilotonnen TNT) über dichtbesiedelten Gebieten beider Staaten – zu vergleichbaren globalen Folgen führen könnte.
Die Annahme, dass die Gefahr eines Atomkrieges mit der Anzahl der Staaten, die über entsprechende Waffen verfügen, ansteigt, ist empirisch ebenso wenig zu beweisen wie zu falsifizieren. Doch allein die Möglichkeit, dass diese Annahme richtig sein könnte, verpflichtet jede verantwortungsvolle Politik dazu, sie ernst zu nehmen.
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Historisches: Moskau gehörte zu den Initiatoren und Erstunterzeichnern des Atomwaffensperrvertrages (Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, NPT) von 1968, der 1970 in Kraft trat und dem heute 191 Teilnehmerstaaten angehören. Für die beigetretenen Atommächte – zunächst Großbritannien, Sowjetunion und USA; China und Frankreich kamen 1992 dazu – ist festgelegt:
- „Jeder Kernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben und einen Nichtkernwaffenstaat weder zu unterstützen noch zu ermutigen noch zu veranlassen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper herzustellen oder sonstwie zu erwerben oder die Verfügungsgewalt darüber zu erlangen.“ (Artikel I)
- „Jede Vertragspartei verpflichtet sich, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.“ (Artikel VI)
Nachdem Indien, das dem NPT nicht beigetreten war, 1974 eine erste atomare Testexplosion durchgeführt hatte, wurde zur Stärkung des NPT-Regimes die internationale Gruppe der nuklearer Zulieferer (Nuclear Suppliers Group, NSG) ins Leben gerufen. Moskau ist Mitglied, heute zusammen mit 47 weiteren Staaten, darunter Deutschland. Aufgabe und Ziel der NSG ist es, zu verhindern, dass Kernmaterial, das für kommerzielle und nichtmilitärische Zwecke exportiert wird (wie Brennstäbe für Kernkraftwerke, Zentrifugen zur Urananreicherung und vieles andere mehr), zur Herstellung von Kernwaffen Verwendung findet. Der Export in entsprechend verdächtigte Länder soll unterbleiben. Ein Hauptverdachtskriterium ist die Nichtzugehörigkeit von Ländern zum NPT.
Die Bilanz von NPT und NSG ist unterm Strich positiv, jedoch mit gravierenden Einschränkungen. Einerseits haben die internationalen Bemühungen um eine Verhinderung der Weiterverbreitung von Kernwaffen, an denen die nuklearen Supermächte bisweilen hinter den Kulissen federführender beteiligt waren, als auf offener Bühne erkennbar, über die Jahre dazu geführt, dass Staaten wie Brasilien und Argentinien, auch Südafrika, das in Kooperation mit Israel sogar einen Atomwaffentest durchgeführt haben soll, sowie Libyens langjähriger Herrscher Muammar al-Gaddafi ihre Kernwaffenprogramme offiziell oder stillschweigend aufgaben. (Auch dem Irak und Syrien wurden Kernwaffenambitionen nachgesagt. Israel begründete damit seine völkerrechtswidrigen Luftangriffe auf mutmaßliche zivile Atomanlagen beider Staaten, die 1981/Irak und 2007/Syrien erfolgten.)
Andererseits stiegen nach Inkraftsetzung des NPT Indien, Pakistan und Nordkorea zu Atommächten auf; erstere sind dem NPT nie beigetreten, Nordkorea trat 2003 wieder aus, was Artikel X/Absatz 1 des Vertrages ausdrücklich zulässt. Israel, das dem NPT ebenfalls nicht angehört, soll bereits seit Ende der 1960er Jahre über Kernwaffen verfügen.
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Jüngere Entwicklung: Um die globale Stagnation auf dem Gebiet der atomaren Abrüstung zu überwinden und eine weitere Verbreitung von Kernwaffen zu unterbinden, wurde auf Initiative einer Gruppe nichtkernwaffenbesitzender Staaten (Österreich, Brasilien, Malaysia, Mexiko, Südafrika, Thailand) und der nichtstaatlichen internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) im Jahre 2017 im Rahmen der Vereinten Nationen ein Atomwaffenverbotsvertrag (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, TPNW) ausgehandelt und mehrheitlich angenommen. Der Vertrag ächtet Entwicklung, Test, Produktion, Erwerb, Lagerung, Transfer, direkte oder indirekte Kontrolle, Stationierung und Einsatz von Atomwaffen sowie die Drohung damit. Nachdem 50 Staaten den TPNW ratifiziert hatten, trat er 2021 in Kraft. Aktuell haben 94 Staaten den Vertrag unterzeichnet und 73 haben ihn ratifiziert. Darunter keine der neun Atommächte, kein NATO-Mitglied und keiner der Staaten, die gegenwärtig Kernwaffenambitionen hegen oder denen das nachgesagt wird (siehe letzter Absatz).
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Moskauer Bilanz: Der Abrüstungsverpflichtung gemäß Artikel VI des NPT ist Moskau, insbesondere im Wege entsprechender bilateraler Verträge mit den USA, insoweit nachgekommen, als die Anzahl der sowjetischen/russischen Atomsprengköpfe nach westlichen Angaben vom Höchststand von über 39.000 (1985) auf aktuell 5460 (2025) reduziert worden ist. Der letzte dieser Verträge (das New Start-Abkommen aus dem Jahre 2011) wird im Februar 2026 auslaufen.
Gleichwohl kann heute davon ausgegangen werden, dass zu keinem Zeitpunkt, ausgenommen möglicherweise die Gorbatschow-Jahre, eine substanzielle Bereitschaft Moskaus zur völligen Aufgabe von Kernwaffen bestand. Das allerdings gilt gleichermaßen für alle anderen Atommächte.
In jüngerer Zeit manifestierte sich diese Nichtbereitschaft unter anderem in Einzel- wie gemeinsamen Aktivitäten der fünf dem NPT angehörenden Atommächte, das Zustandekommen des TPNW zu verhindern. So brachten China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA in einer gemeinsamen Erklärung vom 29. Oktober 2018 zum Ausdruck: „Wir werden diesen Vertrag nicht unterstützen, unterzeichnen oder ratifizieren. Der TPNW wird für unsere Länder nicht bindend sein […]. Wir rufen alle Staaten, die erwägen, den TPNW zu unterstützen, auf, ernsthaft über die Auswirkungen auf den internationalen Frieden und die Sicherheit nachzudenken.“
Inkonsequent im Hinblick auf NPT-Verpflichtungen agierte Russland im Rahmen der Nuclear Suppliers Group ab Ende der 2000er Jahre im Falle Indiens. Hatte es in den Jahren nach der ersten indischen Testexplosion ein NSG-Embargo für zivile Atom- und angrenzende Technik gegen das Land gegeben, änderte sich das ab 2008. Treiber waren die USA. Die hatten die traditionellen indisch-chinesischen Spannungen als Potenzial für ihre eigenen künftigen Auseinandersetzungen mit China „entdeckt“ und revidierten daher ihre atomare Embargopolitik gegenüber dem Land. Zunächst schlossen sie – entgegen den NSG-Usancen – ein Abkommen über zivile Atomkooperation mit Neu-Delhi und erwirkten anschließend eine Aufhebung des NSG-Embargos. Russland, das bereits zu Sowjetzeiten intensive Beziehungen zu Indien pflegte, nahm daran ebenso wenig Anstoß wie etwa Deutschland. Seither kann Indien auf dem internationalen Markt zum Beispiel Nuklearbrennstäbe für seine AKWs kaufen und seine nationalen Uranvorkommen für sein militärisches Atomprogramm reservieren.
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Exkurs: Dass Russland kürzlich – angesichts der konventionellen militärischen Überlegenheit des Westens (siehe dazu Blättchen 15/2022 [1]) – den Ersteinsatz von Kernwaffen im Kriegsfall in seine offizielle Nukleardoktrin integriert hat, ist in diesem Magazin bereits ausführlich behandelt worden (siehe Blättchen 21/2024 [2] und 25/2024 [3]), ist im Übrigen aber nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrages, muss jedoch im Hinterkopf behalten werden, da dieser Punkt von entscheidender Bedeutung für die generelle Haltung Russlands ist, an Kernwaffen dauerhaft festzuhalten. Darin dürfte sich Moskau auch durch den bisherigen Verlauf des Ukraine-Krieges bestätigt sehen. Auf letzteren Zusammenhang hat Michael Rühle kürzlich hingewiesen: Die „westliche Zurückhaltung bei der Lieferung weitreichender Waffensysteme an die Ukraine“ zeige, dass der Westen „den Nuklearwaffenstatus Russlands sehr ernst nimmt“.
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Jüngste Entwicklungen: In der Nacht auf den 22. Juni 2025 flogen die USA unter dem Codenamen Operation Midnight Hammer Luftangriffe auf drei iranische Atomanlagen, um Urananreicherungsanlagen zu zerstören und damit das vermutete Projekt Teherans zum Bau von Atomwaffen lahmzulegen.
Am nächsten Tag meldete sich Dmitri Medwedew, der Ex-Präsident Russlands und jetzige Vizechef des nationalen Sicherheitsrates, im Netzwerk X und kritisierte die US-Aktion scharf. Auch sei die iranische Atom-Infrastruktur nicht oder nur leicht beschädigt. Medwedjew wörtlich: „Die Anreicherung von nuklearem Material – und jetzt können wir es offen sagen, die künftige Herstellung von Nuklearwaffen – geht weiter.“ Er fügte die Drohung hinzu: „Eine Reihe von Ländern ist bereit, dem Iran direkt ihre eigenen Atomsprengköpfe zu liefern.“ Von welchen Ländern konkret er dies wissen wollte, ließ Medwedjew im Dunkeln. Nach einer Intervention des US-Präsidenten ruderte Medwedjew kurz darauf zurück: „[…] Russland hat nicht die Absicht, Atomwaffen an den Iran zu liefern, weil wir […] Mitglied des Atomwaffensperrvertrags sind.“
Hiesige Medien beruhigten: „Medwedews ursprüngliche Drohung deckt sich nicht mit der offiziellen russischen Haltung. Moskau verteidigt zwar eine friedliche Atomnutzung im Iran, ist aber gegen dessen atomare Bewaffnung.“ (n-tv)
Tatsächlich?
Die Frage stellt sich, weil der russische Außenminister Sergei Lawrow wenig später bei einem Aufenthalt in Nordkorea (11. – 13.07.2025), mit dem Russland durch einen Beistandspakt verbündet ist, äußerte: „Die Führung der DVRK hat lange vor den israelisch-US-amerikanischen Angriffen auf die Islamische Republik Iran die entsprechenden Schlussfolgerungen gezogen. Gerade weil diese Schlussfolgerungen rechtzeitig gezogen wurden, denkt niemand daran, Gewalt gegen die Demokratische Volksrepublik Korea anzuwenden.“
Das russische Staatsmedium RT DE kommentierte: Damit habe Lawrow deutlich gemacht, „dass Russland de facto nicht nur die Atomwaffen der DVRK (die unter Verletzung […] der Bestimmungen des Atomwaffensperrvertrags entwickelt wurden) akzeptiert, sondern diesen Schritt auch unterstützt“. Mehr noch: Das Vorgehen der DVRK und des Irans sei „aufgrund seiner faktischen Unvermeidbarkeit“ legitimiert und zeige, „dass andere Länder diesem Weg nicht nur folgen können, sondern auch folgen müssen. Das betrifft jeden Staat, der in seiner Region irgendwelche Ansprüche geltend machen und grundsätzlich eine unabhängige Außenpolitik betreiben und sich nicht von den US-Amerikanern bevormunden lassen will.“
Das wäre eine Carte blanche für den Erwerb von Atomwaffen. Zwar bisher noch nicht offizielle russische Linie, aber immerhin aus einem offiziellen Auftritt des Außenministers hergeleitet.
Für den unwahrscheinlichen Fall, dass Jens Spahn, Unionsfraktionsführer im Bundestag und laut Welt vom 01.07.2025 Verfechter der Idee eines NATO-europäischen nuklearen Schutzschirms unter „deutscher Führung“, russische Staatsmedien zur Kenntnis nehmen sollte, muss jedoch unbedingt ergänzt werden: Carte blanche gilt natürlich nicht für Feindstaaten wie Deutschland. Nachzulesen ist dies in dem kürzlich von WeltTrends in Potsdam publizierten Buch „Von der passiven zur aktiven Abschreckung“ von Dmitrij Trenin, Sergej Awakjanz, Sergej Karaganow: „Moskau muss Berlin warnen, dass jeder Schritt, der zum Erwerb von Kernwaffen durch Deutschland führt, garantiert durch Handlungen Russlands durchkreuzt wird, darunter auch mit Gewalt. Jetzt ist es notwendig, […] darauf hinzuweisen, dass Deutschland, das zwei Weltkriege ausgelöst hat, vernichtet wird, wenn es erneut (wie unter Hitler) zu Kernwaffen greift.“
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Internationale Perspektiven: Für den Fall, dass der Iran in den Besitz von Kernwaffen gelangen sollte, hat Saudi-Arabien angekündigt, nachzuziehen. Das Land gilt als einer der Finanziers der pakistanischen Atomrüstung. Von Medien wurde bereits spekuliert, dass Riad einsatzfähige Kernwaffensysteme direkt von Islamabad erwerben könnte.
Eine entsprechende Entwicklung würde die Türkei kaum tatenlos hinnehmen. Bereits 2019 hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan moniert: „Einige Länder haben Raketen mit nuklearen Sprengköpfen. Nicht nur eine oder zwei.“ Der Türkei hingegen würde man sagen, sie solle keine Atomraketen haben. „Das akzeptiere ich nicht.“
So könnte eine Kettenreaktion in Gang gesetzt werden, wie sie Curt Gasteyger 1965 imaginiert hatte.
Und der Nahe und Mittlere Osten ist nicht der einzige Kandidat für eine entsprechende Entwicklung. Erst Ende August hatte Reuters über aktuelle Ansichten herrschender Kreise in Japan berichtet, dass die zunehmende Unberechenbarkeit der USA als Bündnispartner unter Trump Tokio veranlassen könnte, sich eigene Kernwaffen zuzulegen, und dass in Südkorea 75 Prozent der Bevölkerung die Schaffung eines nationalen Kernwaffenarsenals befürworteten …