Vor mir liegen ungeordnete Mappen. 1966 hat Hans Leonard [von 1946 bis 1966 Chefredakteur und Verleger der Weltbühne; siehe Blättchen 25/2023 [1] – die Redaktion] sie in einen Koffer gepackt, „Madrasch“ und „privat“ drauf geschrieben und in den Keller gestellt. Bevor ich eine Mappe öffne, fällt mir ein: Gedenkblätter mochte er nicht. Und nun will ich eins schreiben. Zu seinen Lebzeiten hat er Texte über sich nicht zugelassen. Nur einmal war etwas in der Weltbühne. 1962 haben wir ihn überlistet. Leonards 60. Geburtstag stand bevor, und er war in Urlaub. Meine Vollmacht über den Inhalt der Weltbühne war nicht grenzenlos, so erfand ich eine Rubrik: „Außerhalb des redaktionellen Teils“; vier Seiten, in Petit gesetzt, am Schluß des Heftes. Als er den Standbogen ansah und auf diese Seite stieß, runzelte er die Stirn wie vor einem seiner plötzlich losbrechenden Redaktionsgewitter, sobald er etwas entdeckte, was gegen die Absprachen verstieß. Er las den Vorspann, Das Gewitter verzog sich. Hier ist der Text: „In den 805 Wb.-Heften, die seit 1946 erschienen sind, war ein Thema nicht zugelassen: Feierartikel für Hans Leonard. Auch heute wollen wir dieses Tabu nicht durchbrechen, und so steht hier also kein feierlicher Artikel zu seinem 60. Geburtstag, sondern einige Weltbühnen-Autoren haben ein paar Gedanken aufgeschrieben zum Thema: Weltbühne und H. L. Er und die Leser werden es hinnehmen müssen.“
Ich lese die Beiträge und entdecke, daß zehn höchst eigenwillige Schreiber eines gemeinsam empfanden: Hans Leonard war ein Freund, auf den man sich verlassen konnte; alle bezeigen Achtung vor seiner Arbeitsleistung, die er nicht auf einem Tablett präsentierte – wenn schon Tablett, dann lag Kuchen drauf. Für seine damals jungen Autoren, für deren Kehlen das süße Zeug gräßlich war, hatte er immer irgendwo etwas Herberes versteckt – er trank Selters …
Die Mappen aus dem Koffer: ich schlage sie auf, wie vertraut das aussieht. In jedem Aktendeckel liegen noch fünf bis zehn weitere, alle beschriftet, oben rechts steht „Privat“. Da sind zwischen Feldpostkarten seines Vaters aus dem ersten Weltkrieg ein paar Schulzeugnisse; die Zensuren weisen einen Durchschnittsschüler aus. Das Bemerkenswerte daran: jedes ist von einer anderen Schule – quer durch Berlin. Die Eltern waren Künstler, mal wohnte die Familie in einer Beletage im Westen, mal hauste sie in einer Kellerwohnung im Norden, je nachdem wie gerade die Gage ausgefallen war. Es war keine wohlgeordnete Kindheit …
Im nächsten Aktendeckel liegt eine Zeitung. Hellmut v. Gerlachs „Welt am Montag“ vom 19. Juni 1922. Die Schlagzeile auf der ersten Seite: Schwarz-weiß-rote Reichswehr. Warum hat Leonard sie aufgehoben? Beim Blättern lese ich im „Politischen Notizbuch“ auf der zweiten Seite: „Der Aktionsausschuß ,Nie wieder Krieg‘ ruft auch in diesem Jahre zu Massendemonstrationen in allen Teiles des Reiches auf … In Österreich, der Tschechoslowakei, Ungarn, in der Schweiz, den Niederlanden, Skandinavien, Frankreich, England und den Vereinigten Staaten werden gleichzeitig Millionen ehemalige Soldaten im Kreise von Kriegsgegnern aller Richtungen das Gelöbnis: ,Nie wieder Krieg‘ in die Welt rufen …“ Hat Leonard die Zeitung deshalb aufgehoben? Er war damals zwanzig und gehörte zu denen, die im Berliner Lustgarten für den Frieden demonstrierten … Davon sprach er, als in der Redaktion ein Foto auftauchte, das Maud v. Ossietzky, Flugblätter verteilend, inmitten der Demonstranten zeigte … Persönlich lernte er Maud v. Ossietzky erst im zweiten Weltkrieg kennen, beide verfolgt – er half, wo er konnte.
Zwischen Versicherungsausweisen und Personalpapieren eine alte Weltbühne, das Heft vom 7. Dezember 1926 mit der Nachricht: Siegfried Jacobsohn ist nicht mehr. Der Begründer der Weltbühne war am 3. Dezember gestorben. Leonard verehrte den „kleinen Mann“, bei dem er 1920 als Achtzehnjähriger volontiert hatte. So kam auch etwas vom Redaktionsstil Jacobsohns auf uns über. Wir arbeiteten zwischen Zeitungsbergen. War keine Ecke mehr frei in der alten Pankower Wohnung, wo unsere Weltbühne eine Zeitlang hauste, wurden kleine Läden in der Nachbarschaft gemietet: es mußte alles aufgehoben werden. Gegen Sammler ist kein Kraut gewachsen. Wir hatten Hunderte von Aktendeckeln, die als „Dossiers“ bezeichnet wurden. Es sah planlos aus, aber es war alles sinnvoll geordnet. Das Büro funktionierte, nichts ging verloren. Beim Korrekturlesen galt das „System Jacobsohn“: der gesetzte Text mußte mit dem Manuskript minuziös kollationiert werden. Das hatte Leonard auch bei S. J. gelernt, mit dem er sonnabends zur Druckerei nach Potsdam fuhr … damals 1920.
In einem Aktendeckel liegen Geburtstagsbriefe und -telegramme, unsortiert, von Erich Weinert, Hans Lorbeer, Alexander Abusch, von Albert Norden, Arnold Zweig, Palucca, von Theaterleuten und von den Dresdner Druckern. Und da finde ich auch Briefe von mir, addressiert an Leonards jeweiligen Urlaubsort. Sie beginnen meistens so: „Beigefügt die Kopien der Posteingangs- und -ausgangsliste – die Manuskripte sind extra ausgewiesen; alle Aktennotizen über Besucher und Telefonate, die von Interesse sind …“ Die Briefe sind lang; denn es gab ja nichts, was er nicht wissen wollte. Wenn ich schrieb: „Kusche war da und hat Ms. gebracht, sehr lustig …“, kam prompt die Antwort: „Sofort herschicken – will mitlachen …“ Da fällt mir eine Besonderheit ein: Leonard griff zum Telefon, wenn ihm ein Manuskript gefiel und bedankte sich beim Autor.
H. L. war ein Nachtarbeiter. Die wichtigeren Hinweise für die Redaktionsarbeit trafen meistens kurz nach Mitternacht bei mir ein. Das Telefon schrillte, und dann fragte er mit sanfter Stimme: „Haben Sie schon geschlafen? – Ach das tut mir leid …“ War er rücksichtslos? Nein, er war ein besessener Arbeiter, dessen Tun und Denken sich ganz auf die Weltbühne und alle, die mit ihr zu tun hatten, konzentrierte.
Über zwanzig Jahre hat Leonard das Blatt gesteuert, sicher an Klippen und Untiefen vorbei. Noch als todkranker Mann hat er täglich – soweit seine Kräfte reichten – für die Weltbühne gearbeitet. Er hatte immer für alle Zeit, für sich wenig, zu wenig. So ist sein Bild in der Öffentlichkeit verblaßt. Er hat nichts dazu getan, es mit einem Goldrahmen zu versehen. Ich tus auch nicht, es würde so gar nicht zu ihm passen. Wir sollten am 12. September zu seinem 80. Geburtstag an ihn denken; und seine Mitarbeiter und seine Autoren werden sich daran erinnern, wie vergnüglich es an seinem 50. war, als wir nur für ihn eine „Sondernummer“ auf den Tisch legten. Vierzehn Autoren haben damals Ernsthaftes und Lustiges, Besinnliches und Witziges, auch Kritisches für Hans Leonard geschrieben. Es hat uns Spaß und ihm Freude gemacht.
Ich klappe die Weltbühnen-Sondermappe zu, die von den Buchbindern der Landesdruckerei Dresden aus diesem Anlaß gemacht und von Peter Edel bemalt wurde, und lege sie wieder zu den Aktendeckeln in Leonards Koffer …