Diesmal: „Vanya“ – Kudamm-Komödie im Ernst-Reuter-Saal Reinickendorf / „Blinded by Delight“ – Friedrichstadt-Palast
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Komödie in Reinickendorf: Raus aus den Kartoffeln
Einer für alle heißt es bei dieser großartigen Ein-Mann-Show mit Oliver Mommsen. Doch die hat nichts zu tun mit vier Musketieren, sondern mit den acht Figuren – männlich, weiblich, alt, älter, uralt –, die in Anton Tschechows gallig grundierter Komödie „Onkel Wanja“ auf einem russischen Landgut reichlich reden, Tee und noch mehr Wodka trinken, an unerfüllten Verliebtheiten nagen und auch sonst verlorenen Lebensglücklichkeiten nachtrauern. Ein letztlich liebenswürdiges, doch ziemlich verrücktes Kollektiv seelisch schwer Angeschlagener – grundsätzlich aus einem Holz geschnitzt. Ein zwar vielstimmiger Chor, aber doch Variationen des Immergleichen, zusammengefasst in einem Monolog.
Solcherart Verdichtung mag nur einem Könner der Dramatik wie dem mit Preisen überhäuften Stephen Simons gelingen (Jahrgang 1971). Doch sein „Vanya“, vor zwei Jahren in London uraufgeführt, lässt Tschechow (Jahrgang 1860) nicht etwa links liegen, sondern formt dessen bestürzend komische Daseinsbeschreibung trefflich um zum inzwischen international gefeierten, boulevardesk schillernden Solo (deutsch: Barbara Christ). – Mommsen hat die deutschsprachige Erstaufführung.
Und er kann‘s. Als begnadeter Verwandlungskünstler. Mit sekündlichem Switchen zwischen Situationen und Figuren allein durch unterschiedliche Sprachfärbungen, Dialekte und Körpergestik. Und ohne den Mummenschanz der Verkleidung, nur sparsam unterstützt durch für die verschiedenen Typen charakteristische Requisiten: ein Hut, Stock, Pelz, Bademantel.
Dabei entsteht das Kunststück einer erstaunlichen Durchlässigkeit fürs Heutige, fürs aufregend Allerweltsgegenwärtige – gesteuert durch die bewundernswert einfallsreiche, subtile Regie von Felix Bachmann.
Immerhin, auf der Plüschdecke auf dem Esstisch von Vanyas verrümpelter Bauernstube steht zwar noch ein Samowar und in der Ecke stecken Birkenreiser. Doch daneben sind Kühlschrank, Spülmaschine sowie ein Regal vollgestopft mit VHS-Kassetten (Bühne: Kaspar Zwimpfer). Alles spielt statt im Altrussischen im Nordenglischen der 1970er. Und aus einem riesigen Kleiderschrank kullert – einer der aufschreckend surrealen Momente neben den zahlreich komischen – die Kartoffelernte gleich sackweise, als Mommsen versehentlich die Tür aufreißt. Sie begräbt unter sich wie der süße Brei im Märchen ein Aus- oder Umsteigen aus dem bisherigen Leben der traurig und trostlos über ihren Abgründen an den Knollen kauenden Sehnsuchts- und Vergeblichkeitsmenschen. Doch noch steht da der Wodka. Vanya kippt und stürzt – verzweifelt zorniger Abgang aus beklemmendem Raum. Ein Raus aus den Kartoffeln! Sein erster – oder sein letzter Versuch … Herzbewegend auch das.
Vom 25. bis zum 29. Dezember. Ein Weihnachtsgeschenk.
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Friedrichstadt-Palast: Wundertüte voller Glückshormone
Aus der kunstvoll aufgeschütteten Fülle prunkender Bilder sinnlicher Überwältigung funken – immer mal wieder – lieb gemeinte Appelle ans Gemüt des Publikums: „Träume! Lass Dich ein auf schöne Träume!“
Berndt Schmidt und Oliver Hoppmann, die Erfinder der neuen Palast-Show „Blinded by Delight“, meinen, ein bisschen Lebenshilfe könne nicht schaden angesichts ziemlich traumatischer Wirklichkeiten. Und so trällert denn poppig, rockig oder gar schlagernd Denise Lucia Aquino durchs Delight. Ein Girlie im lila Tüll mit Schnürstiefeln bis zum Knie, deren Träume ihr ganz in Weiß strahlender Traum-Mann (Julian David) hingebungsvoll befeuert. Zwei schmachtende Herzblättchen, obendrein umflattert wie Luftschlagen von vier singenden klingenden Glückstraumbeschleunigern; einem Quartett koboldhafter Glitzerwesen – eine solch harlekineske Bespaßung, das passt schon.
Denn das heimliche Palast-Motto heißt schlicht und ergreifend: „Freude schenken!“ Und man hat sich nicht lumpen lassen: 15 Millionen Euro Produktionskosten für dieses Monumentalwerk der Unterhaltungskunst. Da gingen schon zur Premiere, so die Ansage, im Vergleich zur letzten Show doppelt so viele Tickets in den Vorverkauf (die Einnahmen von „Falling in Love“: 61 Millionen Euro: investiert wurden damals 14 Millionen). Der Luxusladen wird auch diesmal wieder brummen. Und sich rechnen.
Der Hauptgrund: Die Direktion befolgt brav die Grundregel fürs Big Showbiz: Nicht kleckern, klotzen! – Dazu gehört das Engagement des US-Amerikaners Jeremy Scott, eines Designers von Weltruf, der schon Beyoncé, Rihanna oder Madonna in Schale warf. Gigantisch die Parade seiner 500 Kostüme – gern schalkhaft verspielt (des Meisters Markenzeichen). Besondere Hingucker die Kreationen mit knappstem Materialeinsatz oder, im Gegensatz, mit barocker Überfülle.
Und geklotzt wird auf der mit High-Tech vollgestopften größten Theaterbühne der Welt mit einem Zwei-Stunden-Rausch der Bilder (Florian Wieder, Cuno von Hahn, Szenenbildner, die schon den ESC und das Opening der Fußball-WM Katar gestalteten). Sie setzen scharfe Kontraste, erfinden raffinierteste Übergänge, unglaubliche Projektionen und Effekte zwischen Zaubergarten und Laserstrahlgewitter. Das wuchtig Pompöse, zart Poetische und flirrend Erotische elegant zusammengedacht. Dabei permanent präsent: Die 60-köpfige Ballettkompagnie (Direktion: Alexandra Georgieva) – weltweit ein Alleinstellungsmerkmal. Wenn da im Wasser frech geplanscht wird, ist der Saal perplex. Und wenn die Kick-Line gleißend aufmarschiert, tobt er. Atemberaubend, die mechanische Synchronarbeit der Gliedmaßen. Und im Kopf bitte ein Lächeln. Und dann – das war noch nie! – die Line auf einem langsam rotierenden Catwalk. Unvergesslich.
Doch zwischendurch immer auch wieder ein Sortiment vom guten alten Zirkus aus der internationalen Spitze von heute: Radfahrer schlagen Salto Mortale, am Vertikalseil schwebt ein Duo, am halsbrecherischen Schleuderbrett wird geschleudert. Und am Handstand-Stab verblüfft anmutigste Gelenkigkeit, die jeden Orthopäden in Ohnmacht fallen lässt.
Wir freilich sind „geblendet vor Entzücken“. So nämlich übersetzt Regisseur Oliver Hoppmann den prätentiösen Titel des schillernden Gesamtkunstwerks, dessen Steigerung von Mal zu Mal eigentlich unmöglich ist. Es bleibt beim bewährten Prinzip Wundertüte. Doch immer, so die Kunst der Regie, ein bisschen anders verwundernd.
Zum Schluss dichtes Gewimmel auf der Bühne dieser größten Ensuite-Show der Welt. „Must see in Berlin“ trommelt die New York Times (wir trommeln mit). Noch einmal dreht die Musik der Live-Band hymnisch auf, dazu noch schnell ein Ratschlag der Direktion als Rausschmeißer für uns auf den Rängen: „Halten Sie ihre Träume fest!“ – gemeint sind natürlich nur die guten. Dazu rieseln hernieder wie im Märchen sachte, sachte silberne Sterne aus hauchdünnem Stanniol.
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Der Bericht über Berlins Gute-Laune-Großfabrik in der Friedrichstraße ist mein Abschied an 2025. Ende Januar gehts weiter. – Bleiben zwei Wünsche noch: Zu Weihnachten soll Lametta reichlich glitzern; und an Sylvester höchstens ein Knallbonbon verknallen. Damit grüßt Blättchens Theaterberliner seine Leserschaft. Und das neue Jahr gleich mit.