Ossietzky war mit Leib und Seele Publizist. Das wird oft erwähnt und selten beherzigt. Wir sind – nüchtern betrachtet – in der Ossietzky-Rezeption bisher bei der Verehrung stehengeblieben. Auch, weil zu wenige seiner schriftstellerischen Arbeiten allgemein bekannt und zugänglich sind. Noch immer fehlt eine Gesamtausgabe seiner Schriften. Und was es gibt an Gedrucktem, will weniger gelobt als viel mehr gelesen sein. Eine angemessenere Ehrung eines Publizisten seines Ranges kann ich mir nicht vorstellen, als daß wir gründlich zur Kenntnis nehmen, was er geschrieben, also gedacht, getan und gewollt hat.
Lassen wir diesen außerordentlichen Menschen und seinen Text unvermittelt an uns heran, auch wenn es schmerzt, beim Lesen zu spüren, wie vieles von dem, worüber er schreibt, uns kaum geläufig ist.
Lamentieren wir nicht, lesen wir endlich!
Wir sollten generell der Versuchung widerstehen, bedeutende progressive Persönlichkeiten der Geschichte einfach als Vorbilder zu reklamieren und sie so zuzurichten, daß sie ohne weiteres in die Gegenwart passen. Das hieße in unserem Falle, Ossietzky verbiegen und uns verwirren. Wir brauchen ihn aber im produktiven Sinne zu unserer Verunsicherung, zum Nachdenken, nicht zum Nachahmen. Er muß ein Mann seiner Zeit bleiben, mit Wurzeln in einem Boden, den es so nicht mehr gibt, geformt von Umständen einer vergangenen Epoche. Erst wenn wir all dies bedenken, stellt sich heraus, womit er tatsächlich direkt zu unserer Gegenwart spricht. Es ist, wie ich meine, mehr, als wir schon jetzt überblicken können, täglich kommen uns ja neue Fragen hinzu. Fangen wir also – zum wiederholten Male – an!
Wenn wir den Publizisten Ossietzky begreifen wollen, ist es ratsam, die Maßstäbe an ihn zu legen, die er selbst für gültig annahm. Nur wenige ausdrückliche Zeugnisse seines journalistischen Credos gibt es, und auch dann spricht er meist nicht von sich, sondern schreibt über Freunde und Kollegen – Aufsätze, die wie jeder gute Text über den Verfasser mehr verraten als über den Gegenstand.
Seinem damaligen Kollegen Stefan Großmann, dem Herausgeber des „Tage-Buch“, beispielsweise überreicht er zum 50. Geburtstag „ein Abbild der Klinge“, die dieser fast drei Jahrzehnte als Publizist geführt, „die manchen Harnisch zerbeult, manchen Zopf gespießt, manche Nase verkürzt, aber auch manch wohltätigen Aderlaß herbeigeführt hat“. Der Jubilar werde sich vielleicht dagegen verwahren, „einseitig als Raufdegen behandelt zu werden“, er werde betonen, oft Ja gesagt, mit Hingabe verteidigt und gefördert zu haben – dies alles sei unbestritten, doch in einem täusche er – Ossietzky – sich gewiß nicht: „Ihr Degen“ – und damit meint er den seinen – „scheint mir zum Salutieren doch nicht ganz geschaffen zu sein. Die Spitze wackelt so verdächtig. Das edle Instrument kommt eben aus keinem preußischen Arsenal.“
Ossietzky würdigt Großmann als „Fechtmeister“, weil dieser „in dem fast alle Zeitungsmänner verplebsenden Wirbel unserer Gegenwart eine große und immer mehr versackende Kunst mit graziöser, aber höllischer Schärfe“ vertrete: die Kunst der Polemik.
In der Polemik gegen das Alte, Reaktionäre, Hemmende sah Ossietzky seine journalistische Hauptaufgabe. Schließlich vertrat er die Wider-Sache, er fühlte sich als Widersacher des preußisch-deutschen Militarismus und der Kriegsgesinnung, er verfocht die Macht, die im Geiste wurzelt, stritt also für utopische Ziele in dem Sinne, daß seine Utopien bezeichneten, was noch nicht war, aber sein sollte. Ossietzkys humanistische Ideale bedeuteten radikale Opposition, sein vorderstes Anliegen, „die Durchsetzung der Köpfe mit neuem Geist“, konnte nur gegen den damals herrschenden verwirklicht werden.
So ist es logisch und konsequent, wenn sich der Publizist Ossietzky vor allem als Polemiker verstand. Rudolf Arnheim, Kulturredakteur in der Weltbühne, hat in seinem Geburtstagsgruß zum 3. Oktober 1932 an den im Gefängnis einsitzenden „Lieben Herrn von Ossietzky“ trefflich beschrieben, was ein „echter Polemiker“ ist: „Nicht ein Mensch, der sich vornimmt, aggressiv und rücksichtslos zu sein, sondern einer, der unter einem selbstverständlichen Zwang zuschlägt, wenn er Dunkles und Faules sieht, ganz ohne die Möglichkeit, zu überlegen, ob es gefährlich sei.“
Ossietzky handelte, indem er schrieb. „Handlung“, erklärte er im Revolutionsjahr 1918, „ist das Wesen der Revolution. Spontane Handlung, die unmittelbar zum Ziele führt, im Guten wie im Verhängnisvollen; aber immer herausgewachsen aus der Situation. (…) Es muß ausgesprochen werden gegenüber den allzu Besorgten, den wohlmeinend Gemütvollen, (…) daß es zwecklos ist, Halbheiten durchzumogeln, daß endlich jene geistige Erneuerung durchgeführt werden muß, die der deutsche Michel jahrhundertelang versäumt hat. In der Gegenwart leben und den Problemen fest in die Augen sehen, das ist die einzige Tugend, die einzig revolutionäre Tugend, die wir brauchen können. Kein Kompromisseln; wir sehen ja mit Schaudern, wohin uns die Realpolitiker, die immer nur das kleine ‚Mögliche‘ im Auge hatten und die große Gesinnungslumperei im hohlen Schädel, mit ihrer ach so wunderbar praktischen Politik geführt haben. Nein, lieber dem irrenden Faust auf dem Blocksberge gleich, umbraust vom höllischen Chaos des Hexensabbats, taumelnd zwischen Reue und Verlangen; lieber dem irrenden Ritter gleich, zwischen Tod und Teufeln allein in grauser Wildnis, als paktieren mit jener spießerlichen Adrettheit der Gedanken und Gefühle, jener pomadigen Korrektheit, jener platten und matten Zielbewußtheit, die immer nur das nächste sieht, aber niemals das Wesen erfaßt. So sei der Mensch dieser Zeit, der Mensch, der das Haus baut, in dem die nächsten Generationen wohnen sollen.“
Diener am Geiste wollte er sein, nicht am Worte, Propagandist der von ihm als richtig erkannten Idee. „Grade in den Kämpfen dieser Epoche“, schrieb er 1928 in der Weltbühne, „ist ein Stamm von Nomaden notwendig, von Unseßhaften und Beweglichen – Eilboten der Idee. Sie sind friedlos und nirgends gern gesehen, sie streifen suchend durch die Nacht. Der Schein ihrer Feuer zeigt an, daß nicht alles schläft.“
Ossietzky sah seine Bestimmung als die des „spornenden, peitschenden Außenseiters“. Zwar verkündete er: „Der politische Journalismus ist keine Lebensversicherung: das Risiko erst gibt seinen besten Antrieb“, doch war er weit davon entfernt, das eigene Risiko zum Maßstab für andere zu machen.
Man durchsuche seine Arbeiten nach einem Wort des Selbstlobs; nur Selbstkritik wird man finden. Der Mann ist wahrhaftig, und darum ist es seine Publizistik. Auch dort, wo er irrt. Er klagt sich mit an, wenn er den Zustand der Welt beklagt, und lebt seine Überzeugung, ungeliebtes Kind einer Ehe zwischen Thersites und Kassandra zu sein: Der Journalist müsse „feinere Organe haben für das Kommende als die Menge“, aber „es“ oft in häßlicher und bitterer Art sagen, um gehört zu werden. Um Beifall schreibt Ossietzky wahrlich nicht, das macht ihn selbstbewußt und stark.
Ossietzky ist ein Provokateur. Er provoziert die Reaktion der Reaktion. Er zwingt den Gegner, Farbe zu bekennen. Er treibt seine Pamphlete auf die Spitze, gibt dem Feind keine Chance, ihn zu ignorieren. Daß er dadurch sich gefährdet, hat er einberechnet. Er handelt freiwillig, in selbstbestimmter Mission. Das macht ihn über die Frage erhaben, ob er stets „richtig“ gehandelt habe. Er handelte, wie er es nach bestem Wissen und Gewissen für richtig hielt, und er trug mannhaft die oft bittere Konsequenz seiner Irrtümer und Illusionen. Und doch war er ein Realist: Er vertraute den eigenen Sinnen. In seiner berühmten „Rechenschaft“, als er inzwischen links von sich nur noch Verbündete sah, konnte er mit Recht darauf verweisen, während seiner insgesamt zwölf Jahre als Tagesschriftsteller „in jeder Phase bemüht gewesen“ zu sein, sich „eigne Augen und eigne Haltung zu wahren“.
Heute wissen wir, wie hellsichtig diese Augen waren und wie aufrecht seine Haltung, sein Gang. Manche meinen, er sei gerade daran zugrunde gegangen: an der radikalen Herausforderung übermächtiger Umstände, an seiner Unbedingtheit und Kompromißlosigkeit. Wer so redet, vergißt, um was für einen Gegner es sich handelte. Als Ossietzky erkannte, daß von nun an mit Literatur allein nicht mehr zu kämpfen sei, hat er sich aufgeopfert, ganz ohne Märtyrerpose. Anders als sein Freund und Mitstreiter Kurt Tucholsky, der aus Verzweiflung über die Wirkungslosigkeit der Bemühungen um einen neuen Geist im schwedischen Exil selbst Hand an sich legte, mußte Ossietzky, der das Land nicht verließ, von seinen Feinden umgebracht werden. Billiger sollten sie sein Schweigen nicht haben!
Bevor Ossietzky Opfer wurde, war er Täter: ein journalistischer Überzeugungstäter, der immer wieder rückfällig wurde, indem er die Wahrheit schrieb, trotz eines halben Dutzends Gerichtsurteile durch die wilhelminische und durch die Weimarer Justiz. Den Richterspruch im sogenannten Femeprozeß 1927 quittierte er mit den Worten: „Man mag uns verurteilen heute, morgen, übermorgen, wir werden es hinnehmen, aber unser Stolz wird sein, nicht ‚gebessert‘, sondern nur energischer, schärfer, dichter und zäher zu werden. Dafür sind wir Publizisten und stehen wir im Dienst der Öffentlichkeit.“
Niemand soll sagen, Ossietzky habe nicht gewußt, was er tat und wie gefährlich sein selbstgewähltes Volkstribunat unter Weimarer Verhältnissen schon war, ganz zu schweigen von dem, was danach kam.
Als das Leipziger Reichsgericht ihn im November 1931 wegen der Veröffentlichung eines Beitrages in der Weltbühne, der die illegale Luftrüstung der Reichswehr anprangerte, als „Landesverräter“ abstempelte, um den unbequemen Journalisten mundtot zu machen, zuckte Ossietzky, den das Urteil tief traf, mit den Schultern: „Jeder Publizist, der in bewegter Zeit seinem Gewissen folgt, weiß, daß er gefährdet lebt. (…) Wer, wie der Schriftsteller, an die immaterielle Kraft des in die Welt hinausgeschleuderten Wortes glaubt, der wird also nicht jammern, wenn dieses, Körper geworden, als Gummiknüppel oder Stahlmantel oder Gefängnishaft wieder auf ihn zurückprallt.“
Ossietzky haftete nicht nur für das eigene Wort, öfter noch kam er vor Gericht, weil er als Herausgeber der Weltbühne die Aufsätze von Autoren zu verantworten hatte. Kurt Tucholsky schrieb zu dem Leipziger Urteil von 1931: „Carl von Ossietzky geht für achtzehn Monate ins Gefängnis, weil sich die Regierung an der Weltbühne rächen will, rächen für alles, was hier seit Jahren gestanden hat. Ossietzky geht ins Gefängnis (…) für alle seine Mitarbeiter. Dieses Urteil ist die Quittung der Generale.“ \
Die Nazis nahmen dieses Urteil als Freibrief, Ossietzky ohne weiteres ins KZ zu stecken, und sie entließen den Todkranken erst, als sie sicher waren, daß er ihnen nie wieder mit dem Wort, das seine Waffe war, gefährlich werden konnte. (…)
(Auszug aus einem Vortrag auf der Konferenz des Kulturbundes und der Weltbühne zum Thema „Illusion, Utopie, Realismus. Carl von Ossietzky im Streit um Frieden und Menschlichkeit“, die am 23. Juni 1989 in Berlin stattfand. […])